Eingesperrt!
Das fehlte gerade noch!
Anna rüttelt noch einmal an der schweren Kirchentür.
Ihre freudige Stimmung ist plötzlich wie weggeblasen.
Vier Stunden hat sie gebraucht, um die Kirche für den morgigen Heiligen Abend festlich zu schmücken -
und jetzt kommt sie nicht mehr raus!
Du lieber Himmel - schon nach 22.00 Uhr! Da kommt ja jetzt auch niemand mehr...
Das hat sie nun davon, dass sie die Kirchenbeleuchtung fast ausgemacht hat, um die Wirkung der Kerzen zu testen. Schöner Test! Ob die Hintertür zur Sakristei noch offen ist?
Mit forschem Schritt macht Anna sich auf, um auch dort an einer verschlossenen Tür zu rütteln. Aber sie hat ja noch das Handy. Siedend heiß fällt ihr ein, dass sie ihre Handtasche samt Handy im Auto gelassen hatte, weil sie mit dem Weihnachtsschmuck doch schon alle Hände voll hatte.
„So ein Mist!“ Schuld-bewusst blickt Anna nach oben. „Entschuldigung!“ Jetzt flucht sie auch noch in der Kirche. Ja und was jetzt? Jetzt heißt es warten, bis ihr Mann sich zuhause Sorgen macht – wenn er nicht wieder vorm Fernseher eingeschlafen ist... Vielleicht muss sie ja wirklich die ganze Nacht hier verbringen. Erschöpft und in leiser Verzweiflung sinkt sie auf die Kirchenbank – genau vor der Jesus-Statue, die sie so gern mag. Er ist umringt von fröhlichen Kindern und schaut liebevoll auf die Kirchengemeinde. Daneben, hoch in der Kuppel, hängt er blutend und schmerzverzerrt am Kreuz. Warum Jesus so geschunden am Kreuz hängen muss, hat sie noch nie verstanden! Ob er sich dieses Symbol wohl selbst ausgesucht hätte? Ihr ist sowieso einiges nicht klar, was so über ihn geschrieben wird. Zu Jesus hatte sie immer schon ein leicht gestörtes Verhältnis. Nicht so gestört wie zu ihrem Schwager, den sie nur in kleinen Dosen ertragen kann. Nein - sie liebt Jesus, aber diese Liebe ist mehr so wie eine Brieffreundschaft. Sie kennt ihn nicht richtig, hat seine Nähe noch nie gefühlt.
Annas Augen gleiten wieder unter die vertraute Skulptur. Fünf Kinder schmiegen sich innig an Jesus. Ihr wird plötzlich bewusst, dass sie dieses innige Verhältnis zu niemandem hat. Weder zu ihrem Mann, der sich gern hinter seiner Zeitung und der Fernbedienung versteckt, noch zu ihren Töchtern, seit die in der Pubertät sind und ihr kaum noch etwas erzählen. Wie soll sie sie da verstehen, wie ihnen nahe kommen? Und an Jesus versteht sie auch vieles nicht, z. B. warum nur er Sohn Gottes ist. Warum nur Christen das ewige Leben bekommen. Das Fegefeuer. Das Zölibat. Die Erbsünde...
Anna wird langsam kalt und ihr Po beginnt auf der harten Kirchenbank zu schmerzen. Warum müssen Kirchen eigentlich so unbequem sein?
„Das frage ich mich auch!“
Erschrocken fährt Anna hoch. Da hat sie doch jetzt ganz deutlich eine Männerstimme gehört.
„Hallo, ist da jemand?“ ruft sie mit leicht zitternder Stimme. Das fehlte ihr noch, dass sie hier mit einem fremden Mann eingesperrt ist!
„Nun, so fremd bin ich dir auch wieder nicht...“
Anna klopft das Herz bis zum Hals. Ihre Augen suchen angestrengt in der schwach beleuchteten Kirche nach einer Gestalt. Nichts. Mit einem Stoßgebet macht sie sich Mut und fordert dann mit fester Stimme: „Wenn sie mir etwas zu sagen haben, dann zeigen sie sich!“
„Das wünschen sich viele. Aber geht es nicht gerade darum, das Unsichtbare zu verstehen?“
Ihr Herz, dessen rascher Schlag ihr gerade fast den Atem genommen hatte – wird plötzlich ganz ruhig – und ganz weit. Sie hat das Gefühl, sich ganz und gar aufzulösen. Ihr wird ganz warm und ein Glücksgefühl erfasst sie, wie sie es noch nie zuvor erlebt hat... Kann es wirklich sein, dass Jesus mit ihr spricht?
„Jesus, bist du das?“
Ein Gefühl unglaublicher Wärme durchströmt sie, und ihr wird klar, dass dies die Antwort ist: Ja, sie spricht mit Jesus. Das ist keine Halluzination und kein Traum. Sie ist hellwach. Sie hört ihn. Sie ist ja nicht blöd. Jesus spricht zu ihr! Jetzt bloß nichts falsch machen...
„Du kannst nichts falsch machen,“ hört sie seine Stimme laut und deutlich.
Wie bitte? „Ich kann nichts falsch machen? Geht es nicht darum, dass ich so gut wie möglich bin?“
„Es geht darum, DU zu sein.“
„Soll ich nicht lieber so sein wie Du?“
„Und wie ist das?“
Anna überlegt kurz: „Immer gut, hilfsbereit, liebevoll. Weise und milde. Ohne Fehler eben. Makellos.“
„Und was hast du davon?“
Anna ist überrascht. „Ist das nicht – ’tschuldigung Jesus – eine blöde Frage? Dann bin ich doch immer glücklich!“
Anna wartet auf eine Antwort. Aber es kommt keine. Er wird doch wohl nicht aufhören, mit ihr zu reden - ausgerechnet jetzt?
Anna fängt noch einmal an: „Dann bin ich immer glücklich und immer gut und nichts tut mir mehr weh in meinem Leben und ... ich bin ...“
„Gefühlsneutral?“
Gefühlsneutral? Anna denkt nach. Hätte ich dann keine Gefühlsregungen mehr? Natürlich wären diese Tiefen dann weg. Das wäre zur Abwechslung ja nicht schlecht. Anna schmunzelt. Obwohl - Jesus hatte ja auch Höhen und Tiefen gehabt. Also, wenn Jesus das nicht einmal geschafft hat, wie soll ich es dann schaffen? Ist es vielleicht gar nicht möglich, ohne Höhen und Tiefen zu leben?
„Ach, Jesus, du bist aber so mutig gewesen! Du hast alles auf dich genommen. Du hast dich so ganz auf das Leben eingelassen.“
„So wie du.“
„Du hast aber alles riskiert, sogar den Tod.“
„So wie du.“
„Ja, aber du bist Christus!“
„So wie du.“
Anna ist verwirrt. „Ich bin Christus?“
„Christus ist nicht mein Nachname“, hört sie ihn lachen, „Christus ist ein Bewusstsein.“
Anna steht auf. „Und wie erreiche ich dieses Bewusstsein?“
„Indem du DU selbst bist. DEIN Leben lebst.“
„Mein Leben?“ Anna seufzt. Sie lebt nicht ihr Leben. Sie macht das, was andere von ihr erwarten. Schon immer hat sie sich für das Wohlbefinden anderer verantwortlich gefühlt, sich für sie abgestrampelt... Anna fühlt sich plötzlich so unendlich allein... Wie oft hat sie alles allein machen müssen. Die Stimme von Jesus kommt ganz sanft: „Jede menschliche Erfahrung ist immer auch eine einsame Erfahrung. Und doch, wenn du erkannt hast, dass ALLES in Wahrheit EINS ist - mit allen Höhen und Tiefen, mit allen Menschen und allen Erfahrungen - dann hast du dieses Christusbewusstsein.“
Anna kommt sich so unendlich klein vor und mit Tränen in den Augen ruft sie, dass es durch die ganze Kirche hallt: „Aber ich bin nicht gut genug!“
„Für wen?“
„Für Dich!“
„Glaubst du wirklich, dass ich so streng und so kleinlich bin?“
Rrrumms! Krachend fliegt die große, schwere Kirchentür auf. „Ja da sind Sie ja, Frau Weininger! Das tut mir aber leid, dass ich sie eingesperrt habe. Kommen Sie, ihr Mann wartet schon zu Hause!“
Panik steigt in Anna auf. Sie will jetzt nicht gehen. Nicht jetzt! Was könnte sie Herrn Riedl bloß sagen, damit sie bleiben kann??
Der Kirchendiener winkt ungeduldig mit dem Schlüssel.
„Sag die Wahrheit,“ hört sie Jesus und Angst steigt in ihr hoch. Was wird Herr Riedl von mir denken?
„Das ist seine Sache, nicht deine,“ hört sie Jesus.
Sie schluckt. Und ohne sich zu bewegen, ruft sie: „Ich würde gern noch ein bisschen bleiben, aeh ...hm ... ich rede gerad noch mit ... aehm... Jesus.“
Ein Lächeln geht über das Gesicht des Kirchendieners: „Ah, das verstehe ich gut! Ich spreche hier auch häufig mit ihm.“ Er legt den Schlüssel auf den Boden. „Werfen Sie ihn mir nachher einfach in den Briefkasten! Ich sage Ihrem Mann Bescheid.“
Anna dreht sich wieder zu der Jesus-Statue um: „Du sprichst auch mit Herrn Riedl?“
„Ich spreche mit jedem, der mit mir sprechen will. Zu jeder Zeit.“ Und jetzt weiß Anna plötzlich, dass
Jesus alle ihre Fragen irgendwann und irgendwie beantworten wird. Ein großer, tiefer Friede breitet sich in ihr aus.
„Wo bin ich stehengeblieben?“
„In deinem Leben.“
Irgendwie spürt sie da eine Doppeldeutigkeit. „Bin ich in meinem Leben stehengeblieben?“ fragt sie. Keine Antwort. Mit einem tiefen Seufzer sinkt sie auf die Kirchenbank. Ja, sie ist stehengeblieben. Irgendwie. Ganz still ist es um sie herum. Von draußen dringt kein Geräusch herein. Kommt daher vielleicht diese tiefe Traurigkeit, die sie neuerdings immer häufiger überfällt?
„Du hast das Gefühl, als ob ein Teil von dir stirbt,“ hört Anna. Ja, das stimmt! Sie lügt zwar nicht, aber ihr ist klar, dass sie trotzdem nicht die Wahrheit sagt. Wie häufig sie den Mund hält, wenn sie verletzt ist. Manchmal weiß sie schon gar nicht mehr, was sie eigentlich will. Doch selbst das kann sie niemandem sagen. Und damit stirbt Stück für Stück ihre Lebenskraft, ihre Lebensfreude: Ja, richtige Freude hat sie schon lange nicht mehr empfunden! Und mit Wehmut erinnert sie sich daran, mit welcher Freude sie früher Weihnachtsgeschenke gekauft hatte. Früher, als sie doch kaum Geld verdiente. Wie glücklich sie immer war, wenn sie ein Geschenk gefunden hatte, dass nach „mehr“ aussah. Das war jedes Mal ein Triumpf! Und jetzt kommt es ihr vor, als ob sie das Gleiche mit sich selbst macht: Ständig bemüht, nach „mehr“ auszusehen. Und tief in sich spürt sie diese unendliche Traurigkeit, dass sie sich nicht wirklich so gibt, wie sie sich fühlt. Sie spürt keine Innigkeit. Weder zu ihrem Mann, noch zu ihrem Gott. Wäre Jesus nur nach seiner Auferstehung auf der Erde geblieben, dann hätte er vielleicht mehr erklären können.
„Warum bist du nicht länger geblieben, Jesus?“
„Weil der Botschafter wichtiger wurde als die Botschaft. Die Botschaft ist das Wichtigste und sie ist immer die gleiche: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Doch dazu musst du erst einmal dich selbst lieben. Und das ist nur möglich, wenn du wahrhaftig DEIN Leben lebst. Nicht meines. Nicht das der Kinder und nicht das der Nachbarn. Sondern ganz allein deines.“
Anna seufzt: „Vielleicht schaffe ich das ja nicht.“ Als die Antwort kommt, durchströmt Anna eine Welle von Liebe:
„So wie du deine Kinder nicht vor unmögliche Aufgaben stellst, so wird auch von dir nichts Unmögliches verlangt. Außer du empfindest es als unmöglich, Du selbst zu sein?“
Anna hört sein Lachen. Und sie fühlt eine unglaubliche Leichtigkeit in sich. „Ist das alles? Ich soll mein Leben so leben, wie ich es möchte? Das ist alles?“
„Das ist anstrengend genug“, hört sie Jesus. „Und doch, mein Kind, ist es das Spannendste, was du je erleben kannst. Freue dich auf dein Leben. Möge der Tag meiner Geburt auch dich neu gebären.“
Annas Blick versinkt in der Jesusstatue - und sie hätte schwören können, dass er ihr gerade zugeblinzelt hat. Dass sie da nicht früher drauf gekommen ist! Natürlich will auch sie, dass ihre Kinder glücklich sind. Wie logisch, dass Gott das auch von seinen möchte! Und wenn sie ihr Leben wirklich so aus vollem Herzen genießen soll, und alles tun, was sie wirklich will - dann würde sie morgen zum Gottesdienst am liebsten ein Kissen für diese harte Bank mitbringen. Warum eigentlich nicht? Vielleicht ist das ihr erster Schritt zu „liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Sie strahlt plötzlich, als sie den Entschluss fasst. Sie wird zwei Kissen mitbringen! Eins für sich und eins für „ihren Nächsten“.
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