von Gerrit Gielen
Wenn wir das akzeptieren, was die Zeitungen über das
Altwerden erzählen, scheint es mit das Schlimmste zu sein,
was einem
menschlichen Wesen passieren kann.
Und für die Gesellschaft im Ganzen wird eine
alternde Gesellschaft
als ein Desaster betrachtet.
Überfüllte Pflegeheime,
unerschwingliche Gesundheitskosten
und ein genereller Verfall ist, was wir mit
dem Älterwerden verbinden.
Jeder von uns wird älter.
Mit jeder Sekunde, die
verstreicht, verlieren wir ein wenig unserer Jugend.
Es ist ein natürlicher
Prozess, dem alle lebenden Kreaturen unterliegen.
Wie kommt es dann, dass wir
solch einen natürlichen Prozess so verabscheuen?
Ist da etwas mit der Natur
falsch?
Oder ist etwas mit uns verkehrt,
mit unserer Art und Weise, wie wir
über das Altern denken?
Wie fühlen sich alte Menschen tatsächlich in diesem
gefürchteten Alter?
Wissenschaftliche Untersuchungen über Glücklichsein im
Verhältnis zum Alter zeigt eine U-förmige Kurve.
Junge und alte Menschen sind
am glücklichsten.
In der Mitte des Lebens ist es eher so,
dass wir
unglücklicher sind als in unserer Jugend.
Untersuchungen zeigen, dass alte
Menschen sogar
etwas glücklicher sind als junge Leute.
Wie ist das möglich?
Wie
kann das sein, dass obwohl Altern mit so vielen Problemen verbunden wird,
Menschen sich trotzdem glücklicher fühlen?
Lasst uns den Lebenszyklus eines
menschlichen Wesens aus einer spirituellen Perspektive her anschauen.
Geburt: der Verlust unserer selbst
Aus einer spirituellen Sicht ist die Geburt ein Eintauchen
in die Materie.
Wir verlassen das Reich der Seele,
eine Atmosphäre von Freude
und Frieden.
Im Reich der Seele existieren die Einschränkungen von Zeit und
Raum nicht, ebenso wenig das Gefühl der Trennung, das wir auf Erden erfahren.
Freiheit ist ein natürlicher Zustand.
Mehr noch, alles um uns herum strahlt
Schönheit, Liebe und Harmonie aus,
Angst und Leiden gibt es nicht.
Nichtsdestoweniger akzeptieren wir an einem bestimmten Punkt die Einladung von
Mutter Erde als menschliches Wesen geboren zu werden.
Mit jeder Geburt beginnen
wir einen langen Abstieg in die physische Atmosphäre und die Verbindung mit
ihr.
In der alten Literatur wird die Geburt einer inkarnierten Seele als die
"Fesselung der Seele" genannt.
Die Seele landet im restriktiven,
dichten Reich der Materie, in der jedes Wesen vom anderen getrennt erscheint.
Die Seele hat Schwierigkeiten, in dieser Atmosphäre ihre natürliche Schwingung
zu halten;
sie gehört dort nicht hin und sie kann nur überleben,
indem sie sich
regelmäßig zurück zieht.
Dieser Rückzug ist das, was wir Schlaf nennen und er
ist nicht nur essentiell für unseren Körper, sondern auch für unsere Seele.
Auch wenn die Geburt den Beginn einer neuen Inkarnation
markiert,
ist der Prozess des Abstiegs der Seele noch lange nicht vorüber.
Ein
weiterer Abstieg erfolgt um das vierzigste Lebensjahr herum.
In dieser Zeit hat
der Abstieg in die Materie seinen Höhepunkt erreicht: dann bewohnen wir als
Erwachsener völlig den Bereich von Materie
und menschlicher Gesellschaft.
Aus
der Perspektive der Seele sind wir nun am weitesten entfernt von der Quelle,
dem himmlischen Reich, aus dem wir kamen. Am tiefsten Punkt unserer Inkarnation
ist der Abstand zu unserem Ursprung am größten. Während der Kindheit ist die
Verbindung mit der ursprünglichen Sphäre der Seele immer noch stark. Kinder
sind oft intuitiv, spontan freudvoll und gehen völlig im Moment auf; diese
Qualitäten sind für die Seele völlig natürlich.
Das Leben zu genießen und auf spielerische Weise zu erkunden, ist völlig
natürlich für die Seele. Unglücklicherweise wurde unsere Gesellschaft von einer
verzerrten, männlichen Auffassung von Spiritualität dominiert, die diese
Qualitäten nicht als spirituell betrachtet, sondern sie als Zeichen von Unreife
ansieht. Diese schwere und ernste Darstellung von Spiritualität stammt nicht
aus dem ursprünglichen Christentum. In der Bibel finden sich immer noch Spuren
der Seelenperspektive. In Markus 10:14 zum Beispiel sagt Jeshua: " Lasst
die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht, denn ihnen gehört das Königreich
Gottes."
Pubertät: der Abstieg nach unten
Vor dem Erreichen des Erwachsenenalters gibt es die
Übergangsphase der Pubertät, gefolgt vom jungen Erwachsensein. Das Bewusstsein steigt tiefer in die
materielle Ebene hinab; der Abstand von unserer Quelle wird größer. Die
natürliche Fröhlichkeit und das Selbstvertrauen der Kindheit geht verloren.
Zweifel und Ängste steigen auf; nichts wird mehr als selbstverständlich
genommen. Da gibt es Rebellion und Unsicherheit. Die Abwehr bezieht sich
normalerweise auf die Umgebung: die Eltern, die Schule, die Gesellschaft
generell - all das ist oft unter kritischer Prüfung. Unbewusst ernten diese die
Schuld für den Verlust, den die Teenager und jungen Erwachsenen fühlen. Aber
letztlich ist ihre Rebellion gegen die innere Entwicklung gerichtet: den
tieferen Abstieg in den irdischen Bereich und ein weiteres Loslassen der
Quelle.
Im Reich der Seele ist es völlig natürlich, einen
einzigartigen Platz im Ganzen zu haben. Niemand bezweifelt sein Recht zu
existieren und jeder weiß intuitiv, welche Rolle er im großen Ganzen spielt.
Das Wissen, dass der Kosmos nicht vollständig ist ohne uns, dass jeder ein
integraler Teil der größeren Ganzen ist, gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und
Versorgtseins. Während der Pubertät geht dieses Wissen verloren und das führt
zu einer Identitätskrise. Diese Krise mag so überwältigend sein, dass junge
Menschen süchtig nach Drogen oder Alkohol werden und in manchen Fällen sogar
Selbstmord begehen. Solche Verzweiflungstaten entspringen oft einem tiefen
Verlangen, die Verbindung mit der Seele wieder herzustellen. Glücklicherweise
ist Widerstand nicht das einzige, was in dieser Periode passiert. Pubertät und
Erwachsenwerden sind auch Zeiten, in denen viele Aspekte des irdischen Lebens
mit Begeisterung und Neugier erforscht
werden. Wir mögen uns für Natur, Musik, Literatur interessieren, oder neue und
provokative intellektuelle Ideen verfolgen. Das Interesse an anderen wächst:
Wir verlieben uns zum ersten Mal.
Vielleicht zum ersten Mal nehmen wir unsere Originalität,
unsere Individualität wahr. Jede Seele ist einzigartig und nimmt ihre eigenen
Samen mit zur Erde, Samen, die während der Kindheit keimen und sich während des
Erwachsenwerdens aus dem Boden erheben. Oft tauchen in dieser Lebensphase
originelle Gedanken und Gefühle auf, die einen dauerhaften Einfluss auf unsere
Zukunft haben und im Erwachsenenalter klare Gestalt annehmen. Wenn alles gut
geht, fällt der Verlust der Kindheit zusammen mit einer Periode der
Wiederentdeckung dessen, wer wir sind, unabhängig von unseren Eltern und
unserer Erziehung. Diese Wiederentdeckung sorgt auf lange Sicht dafür, dass die
Rebellion sich legt und der Strom des Lebens uns zu neuen und aufregenden
Plätzen bringt. Das wertvollste Geschenk, was man jemand in der Pubertät und im
jungen Erwachsenenalter geben kann, ist Vertrauen. Zuversichtlich zu sein, dass
es da einen Weg und einen Ort gibt in dieser verwirrenden Welt, ohne Rücksicht
darauf, wie "anders" sie sind, ungeachtet ihrer scheinbaren
Unfähigkeit irgendwo hinein zu passen. Es ist exakt diese Originalität, ihre
Individualität, die die Welt braucht und die den einzigartigen Beitrag ihrer
Seele darstellt.
Erwachsenalter: ein Tiefpunkt in unserem Leben
Das Erwachsenenalter, der physische Höhepunkt des Lebens,
ist aus der spirituellen Sicht der Tiefpunkt des Lebens. Der Abstand zum
Bereich der Seele - von unserer eigenen Seele - ist nun am größten. Wir
befinden uns nun am weitesten entfernt von unserem spirituellen Ursprung. Wir
sind jetzt völlig eingetaucht in die materielle Ebene, und wir haben uns identifiziert mit unserer
menschlichen Persönlichkeit und unseren Errungenschaften. Während dieser Phase
sind Menschen normalerweise am unglücklichsten. Die physische Welt mit ihren
Gesetzen und Restriktionen wird nun als die einzige Realität erfahren. Eine
Menge Sorgen drehen sich um Geld und Besitz, um sozialen Status und harte Arbeit.
Diese Fixierung macht, dass Menschen sich noch mehr vergessen. Die
Identifizierung mit der materiellen Ebene im Erwachsenenalter ist oft so stark,
dass wir dazu tendieren zu glauben, dass das alles ist, was es da gibt und sich
das Leben nur um diese Dinge dreht. Es mag da spirituelle Glaubenssätze geben,
aber oft stammen sie aus den traditionellen Religionen, die hauptsächlich auf
Angst und Dogmen basieren. Die traditionellen Religionen haben ein verzerrtes
Bild von Spiritualität und oft schaden sie mehr, als sie nutzen. Das
Wichtigste, was ein Erwachsener aus spiritueller Sicht tun kann, ist die Samen
zu hegen, die er oder sie als Seele zur Erde gebracht hat und sie zu
wunderschönen Blumen wachsen zu lassen. Das ist unsere wirkliche Mission, und
wir können sie nur erfüllen , indem wir aufrichtig uns selbst gegenüber
bleiben, indem wir uns nicht durch den Druck und die Regeln der Gesellschaft
gängeln lasen.
Ziemlich oft scheitert diese Mission. Als Erwachsene sehen
wir die Ideale der Jugend und der Pubertät, die Träume und Wünsche der Kindheit
als naiv und undurchführbar an. Obendrein passen sie nicht in das, was die
Gesellschaft zu erwarten scheint und als realistisch ansieht. Authentische Wege
des Selbstausdrucks, die immer noch da sind, werden oft als egoistisch,
unverantwortlich oder sogar krankhaft etikettiert.
"Verhalte Dich normal, benimm Dich wie eine
verantwortlicher Erwachsener." Wir sollen in die soziale Form passen oder
wir gehören nicht dazu. 40 Stunden in der Woche arbeiten und drei Wochen Ferien
im Jahr. Ich erinnere mich an meine Traurigkeit, als ich in den Kindergarten
kam. Im Alter von vier Jahren konnte ich schon ahnen, was für mich vorgeplant
war: Jahre um Jahre der Schule und dann Arbeit. Ich fragte mich, wann ich
jemals wieder frei sein würde. Am Ende der Grundschule wurde ich während eines
Tests gefragt, was ich später im Leben werden wollte und meine Antwort war
"Privatier". Ich wollte einfach wieder frei sein; ich wollte nicht in
ein System gepresst werden, was mir vorschrieb was ich zu tun und zu lassen
hätte.
Glücklicherweise war es mir während meines Erwachsenenlebens
möglich, einen komfortablen Teilzeitjob zu bekommen, der mir erlaubte, nicht
mehr als drei Tage die Woche zu arbeiten. Andere Leute fanden es merkwürdig,
dass ich als erwachsener Mann keine Karriere machte, wenig Ambitionen hatte und
es vorzog, durch die Natur zu wandern, Bücher zu lesen und philosophische
Gespräche mit meinen Freunden zu führen. Erst in meinen Vierzigern realisierte
ich, das das akzeptabel und sogar praktisch war, so anders zu sein. Ich machte
meine Hobbies (über Philosophie und Spiritualität nachzudenken, Hypnotherapie
zu praktizieren) zu meiner Arbeit. Schließlich ließ ich auch den Teilzeitjob
los. Ich entdeckte, dass ich frei sein konnte, Dinge tun, die ich wirklich
mochte und außerdem damit meinen Lebensunterhalt verdienen. Der Schlüssel war
Vertrauen: an meine ursprünglichen und einzigartigen Gaben zu glauben, die
meine Seele in sich trug und darauf zu vertrauen, dass die Erde mich willkommen
heißen und mich für das Teilen meiner Gaben belohnen würde. Mit dieser
Erkenntnis begann ich den Weg nach "oben", den Weg zurück zu meiner
spirituellen Natur.
Altern: der Weg zurück nach "oben"
Wenn wir älter werden, beginnen wir wieder den Weg nach
"oben", zurück zur Seele. Der Tiefpunkt der vollen Inkarnation in und
der Identifizierung mit der materiellen Ebene ist vorüber. Wir können diesen
einseitigen Fokus loslassen, und wir werden oft genug dazu angespornt durch die
Herausforderungen des Lebens, die uns begegnen oder dass wir mit der
zunehmenden Zerbrechlichkeit unseres Körpers konfrontiert zu werden.
Wir bewegen uns wieder nach "oben" um schließlich
wieder zur Quelle zurück zu kehren. Die natürliche Bewegung des Alterns ist das
Wachstum zum Licht hin, der Identifizierung mit der größeren Realität unserer
Seele, anstatt mit der endlichen und begrenzten Realität unseres Körpers und
unserer Persönlichkeit.
Aus einer spirituellen Sicht heraus werden wir mehr anstatt
weniger, wenn wir altern: Weisheit, Vertrauen und Freude können sich viel eher
entfalten. Ein menschliches Wesen, das natürlich und anmutig altert, ist sich
dessen bewusst, dass es da viel mehr gibt, als sein irdisches Selbst. Alternde
Menschen realisieren, dass ihr wahres
Selbst über die Rollen hinaus geht, die sie auf der materiellen Ebene des
Lebens gespielt haben. Indem der Griff dieser Realität sich vermindert,
beginnen sie sich wieder zu erinnern, wer sie wirklich sind: ein ewiges Wesen
aus lebendigem Licht.
Unglücklicherweise wird dieser natürliche und anmutige
Prozess oft durch die tief eingegrabenen sozialen Glaubensmuster behindert. Wir
leben in einer Gesellschaft, die im Großen und Ganzen daran glaubt, dass die
physische Realität alles ist, was es da gibt, dass kein wahres Selbst über das
irdische Selbst hinaus existiert und daher alt werden eine schlechte Sache ist.
Die Menschen haben sich völlig mit ihrem physischen Körper und ihrer Persönlichkeit
identifiziert. Älter werden wird verbunden mit Verlust und Verfall, mit einer
Bewegung hin zu einem Nichts. Viele Menschen wehren sich daher gegen den
Prozess des Alterns, und dieser Widerstand unterbricht den natürlichen Aufstieg
in Richtung Seele und zu mehr Licht und Freude. Dem Alterungsprozess zu
widerstehen, erschafft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Was Du
fürchtest wird wahr, weil Du es fürchtest. Der Widerstand führt dazu, sich am
Körper und der physischen Dimension festzuklammern. Dieses Klammern ist ein
Leugnen und ein sich Abkehren vom Inneren Licht und das hat eine Reihe von
tragischen Konsequenzen für einen alternden Menschen.
- Als erstes kann der alternde Körper ungemein von einer
tiefer gefühlten Verbindung mit der Seele profitieren. Wenn eine Person sich
während dem Alterungsprozess mit der Seele verbindet, fließt die Energie der
spirituellen Ebene stärker durch ihren Körper. Der Körper wird aufgerichtet und
revitalisiert durch das Licht und die Freude und bekommt dadurch eine
Extraportion Stärke und Gesundheit. Die Beschwerden des Alters haben kaum einen
Effekt auf ihn. Aber wenn das Bewusstsein sich nicht auf das richtet, was
jenseits des Irdischen liegt, und wenn jemand verzweifelt am Irdischen hängt,
muss der Körper ohne diese zusätzliche Energie auskommen. Das verstärkt das
Risiko von gesundheitlichen Problemen.
- Zweitens können in einer Gesellschaft als Ganzes ältere
Menschen eine wichtige Rolle erfüllen: spirituelles Gewahrsein und Weisheit an
die jüngere Generation ausstrahlen, die ihre Aufmerksamkeit auf den irdischen
Bereich und den Anforderungen der Gesellschaft gerichtet haben. Ältere Menschen
können durch ihre Lebenserfahrung und ihre wachsende Verbindung mit der
Dimension der Seele einen positiven Einfluss auf jüngere Menschen haben, indem
sie ihr Licht teilen, ihre Einsicht und ihre Leidenschaft. Sie können eine
größere Perspektive auf Dinge anbieten und mit Geduld zuhören. Natürlicherweise
nimmt jeder in älteren Menschen mehr Weisheit, Frieden und Gelassenheit wahr.
Der positive Einfluss von älteren Menschen kann sich auf
verschiedene Weisen ausdrücken: von einer einflussreichen spirituellen
Persönlichkeit bis hin zu einer netten weisen Oma, an die sich alle aus der
Familie um Rat wenden. Auch gibt es Schreiber, Künstler und Therapeuten, die in
einem sehr fortgeschrittenen Alter ungewöhnliche Arbeit machen und unbewusst
viel andere Menschen inspirieren.
Ältere Menschen sind eine Brücke zwischen dem Bereich der
Zeitlosigkeit und dem praktischen Alltagsleben. Eine Gesellschaft, die den Wert
des Alters nicht erkennt, ist eine Gesellschaft, die ihre Verbindung mit dem
Spirituellen verloren hat. Wir erleben dann eine Gesellschaft, die Amok läuft:
Schaut Euch einfach nur mal um.
Wenn der alternde Mensch nicht seinen natürlichen Platz in
der Gesellschaft einnehmen kann, leiden beide Seiten, die Gesellschaft und die
Alten. Das Leben der Älteren wird einsam, klein und langweilig. Ist es nicht
tragisch, dass in einem Alter, wo das menschliche Wesen am besten für spirituelle
Arbeit geeignet ist, sie ins Abseits geschoben werden? Habt Ihr jemals gehört,
dass ein Autor oder Künstler an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag aufgehört
hat zu arbeiten? Stellt Euch einfach nur mal vor, wie viele große Bücher und
Kunstwerke es nicht gäbe, wenn sich diese Menschen an die ungesunde Regel
gehalten hätten, mit fünfundsechzig mit ihrer Arbeit aufzuhören. Zur Zeit lese
ich die Memoiren von Claude Lanzmann, der 1925 geboren wurde und der den Film
"Shoah" gemacht hat. Auf jeder Seite bin ich berührt und erstaunt
über die Gelehrsamkeit, die Weisheit und dem Reichtum dieses Buches.
Entsprechen den Standards unserer Gesellschaft hätte dieser Mann mehr als
zwanzig Jahre früher in den Ruhestand gehen sollen und nichts mehr tun! Absurd!
Ältere Menschen werden klein gemacht und machen sich selbst klein: physische
und mentale Degeneration sind das Ergebnis.
Altern: fünf Vorschläge, den Weg zu erleichtern
Um einen natürlichen, anmutigen Weg zu finden, in unserer
Gesellschaft zu altern, die solch negative Bilder über das Altern hat, ist
radikales Umdenken nötig. Hier sind einige Vorschläge:
Vergiss alles, was Dir die Gesellschaft über das Altern und
das Altsein erzählt
Die Sicht der Gesellschaft auf das Altern ist nicht
spirituell. Sie betrachtet menschliche Wesen nicht als Träger einer zeitlosen
Seele, sondern als physische Organismen, die zunehmend zusammenbrechen und
nutzlos werden. Aber jeder Mensch, der das Leben mit einem offenen Herzen und
einem offenen Geist erfährt, wird zu dem Schluss kommen, dass es mehr mit dem
Leben auf sich hat als nur das. Leben hat eine spirituelle Dimension und diese
Dimension ist wesentlich fundamentaler als die physische. Als Ältere können wir
mit dieser Dimension viel leichter in Kontakt kommen und Inspiration und Stärke
daraus ziehen.
Erkenne, dass nichts jemals verloren ist
Nichts und niemand geht "in der Nacht" verloren;
alles von Wert bleibt. Eines der ersten Dinge, die wir heraus finden, wenn wir
sterben und Zugang zu der anderen Seite haben, ist, dass alles immer noch da
ist. Unsere Familienmitglieder und lieben Freunde, die Welt unserer Kindheit,
unsere liebsten Erinnerungen - alles ist immer noch da. Und wir können uns mit
unseren Liebsten verbinden oder einige Erfahrungen wieder erleben, wenn wir das
möchten - es ist alles für uns da. Indem wir mit dem Fluss des Lebens gehen und
uns dem Alterungsprozess hingeben, reichen wir in diese zeitlose Dimension
hinein, wo alles von wirklicher Substanz aufbewahrt ist. Wenn wir es wagen
loszulassen, können wir flüchtige Einblicke in diese Dimension gewinnen. Dann
können wir erkennen, dass auf der inneren Ebene nichts verloren ist - und
dieses innere Wissen bringt Frieden und Gleichmut.
Geh in die Welt hinaus. Das ist die Zeit, Dein Licht
strahlen zu lassen. Es wird der Gesellschaft und Deinen Mitmenschen dienen.
Jüngere Menschen verstehen die älteren oft nicht. Wie können
sie so annehmend, friedvoll und glücklich sein, wenn sie täglich mit dem
Verlust von Gesundheit und Fähigkeiten konfrontiert werden, gefolgt vom Tod?
Die Antwort ist, dass die Älteren ein inneres Wissen haben, worüber die
Jüngeren noch nicht verfügen. Ältere Menschen sind oft geprägt und gereift
durch die Lebenserfahrungen, die sie milder und nachdenklicher gemacht haben,
als die durchschnittliche junge Person. Eine ältere Person muss mehr loslassen
und sich öfter unterwerfen. Daraus entsteht ein Gleichmut, der Frieden und
Glück bringt. Die Älteren würden der Gesellschaft und ihren jüngeren
Mitmenschen einen großen Dienst erweisen, wenn sie sich ihrer Gaben bewusst
wären und sie teilen würden. Wirf einen aufrichtigen Blick auf das, was die
Welt heutzutage braucht: neue Handys, schneller Autos? Nein: Weisheit, Ruhe und
Friedfertigkeit. Ist es nicht das, was Ältere anbieten können?
Betrachte die Rollen, die Menschen spielen, als relativ.
Nimm sie nicht so ernst.
Leben ist ein Spiel. Menschen (sprich Erwachsene), die
vollständig in diesem Spiel aufgehen, nehmen ihre Rolle sehr ernst. Lass Dich
nicht zu sehr von dem Spiel aufsaugen, halte etwas Abstand. Durchschau es;
beobachte, wie die Spieler ihren Part spielen. Die menschliche Gesellschaft als
ein Spiel zu betrachten, das Menschen spielen, macht es einfacher, die
Standards und Erwartungen loszulassen, die damit verbunden sind. Es macht es
einfacher, die Rollen loszulassen, die wir gewohnt sind zu spielen - als
Eltern, Angestellter, usw., usw. - und ein neues Kapitel in unserem Leben zu
öffnen.
Vertraue auf das Leben. Vertrau darauf, dass das Leben Dir
neue Erfahrungen bringt, neue Rollen, die besser zu der Person passen, die Du
jetzt bist, nicht der Person, die Du gewesen bist. Durch das Loslassen der
Vergangenheit, durch das sich hingeben, öffnest Du Dich für etwas Neues, und Du
magst andere Seiten an Dir kennen lernen. Wenn Du an etwas fest hältst, was
nicht mehr länger passend für Dich ist, wird ein Gefühl des Verlustes und der
Leere entstehen. Vertrau dem Leben und lass los.
Identifiziere Dich nicht länger mit Deinem Körper und der
physischen Welt, sondern mit Deinem Bewusstsein.
Sich mit Deiner Rolle in der physischen und sozialen Welt zu
identifizieren bringt Spaß und ist interessant, solange Du Dir darüber bewusst
bist, dass es ein Spiel ist. Für eine Weile bist Du völlig davon absorbiert und
dann lässt Du wieder los. Auf diese Weise gehst Du durch eine große Bandbreite
von Erfahrungen und Deine Seele wird dadurch bereichert. Es ist völlig
natürlich sich während einer bestimmten Periode in Deinem Leben mit den Rollen
zu identifizieren, die Du spielst, aber es ist ebenso natürlich, an einem
gewissen Punkt zu spüren, dass es Zeit ist, loszulassen und zu realisieren, wer
Du über diese Rolle hinaus noch bist. Das wird normalerweise geschehen, wenn Du
älter wirst.
Stell Dir vor, Du steuerst ein Auto. Wenn Du denkst, dass Du
das Auto bist, wird es schrecklich sein, wenn etwas damit passiert. Wenn Du Dir
bewusst bist, dass Du der Fahrer bist, ist es nicht so schlimm: Du weißt, dass
Du nicht das Auto bist und kannst einfach aussteigen.
Stell Dich mal vor einen Spiegel und schau Dir das
Spiegelbild an: sieh, wie Dein Gesicht älter geworden ist. Aber hinter Deinem
Gesicht, Deinen Augen, ist etwas, was nicht altert und zeitlos ist: Dein
Bewusstsein. Fühle es. Indem Du Dich mit Deinem Bewusstsein identifizierst und
nicht mit Deinem alternden Körper, gehst Du mit dem natürlichen Fluss des
Alterns. Die Verbindung mit dem, wer Du wirklich bist, mit der Dimension Deiner
Seele, vertieft sich.
Der Segen des Alters
Es ist nichts verkehrt mit einer alternden Bevölkerung.
Ältere Menschen sind deutlich glücklicher, eine alternde Bevölkerung bedeutet,
dass die Gesellschaft als Ganzes zufriedener wird.
Das proportionale Ansteigen der alternden Bevölkerung
bedeutet auch ein Ende der schrecklichen Bevölkerungsexplosion, die ein
Aussterben von so vielen Tieren und Pflanzen verursacht hat. Wir gehen in eine
Zukunft mit weniger Menschen auf der Erde und daher werden die Menschheit und
die Natur mehr im Gleichgewicht sein.
Als ein Ergebnis der wachsenden Anzahl älterer Menschen wird
es unmöglich, sie zu ignorieren oder sie klein zu machen. Die Gesellschaft wird
gezwungen, ihnen einen angemessenen Platz zu geben. Und Ältere werden
herausgefordert, sich diesen Platz zu nehmen. Die absurde Logik, die Menschen
in, aus einer spirituellen Sicht gesehen, fruchtbarsten Phase ihres Lebens auf
das Abstellgleis schieben will, wird ein Ende finden. Das bedeutet, ältere
Menschen werden sich nicht mehr länger verstecken, sondern erlauben, ihr Licht
strahlen zu lassen.
Ältere Menschen bringen der Gesellschaft Weisheit, Frieden
und Gelassenheit. Die Menschheit hat sich verirrt und ist in einer großen
Schwierigkeit, sich mit der zeitlosen Realität der Seele zu verbinden. Eine
Gesellschaft, die die natürlichen Segnungen und Gaben des Alters ernst nimmt,
wird eine Gesellschaft sein, die sich auf die Harmonie zwischen menschlichen
Wesen und Harmonie mit Mutter Erde fokussiert, anstatt auf das Fortführen von
Erfolg und Ausbeutung unseres Planeten. Es wird auch eine Gesellschaft sein, in
der es weniger Angst vor dem Tod und dem Altsein geben wird. Älter werden wird
als ein gnadenvoller Prozess wahrgenommen und als eine schrittweise Rückkehr in
die Quelle des Lichts, aus der wir alle stammen.
© Gerrit Gielen
Übersetzung Gabriele Rothe