Dienstag, 10. März 2015

Eine spirituelle Sicht auf das Altern

von Gerrit Gielen
Wenn wir das akzeptieren, was die Zeitungen über das Altwerden erzählen, scheint es mit das Schlimmste zu sein, 
was einem menschlichen Wesen passieren kann.
 Und für die Gesellschaft im Ganzen wird eine alternde Gesellschaft 
als ein Desaster betrachtet. 
Überfüllte Pflegeheime, 
unerschwingliche Gesundheitskosten
 und ein genereller Verfall ist, was wir mit dem Älterwerden verbinden.
Jeder von uns wird älter. 
Mit jeder Sekunde, die verstreicht, verlieren wir ein wenig unserer Jugend.
 Es ist ein natürlicher Prozess, dem alle lebenden Kreaturen unterliegen.
 Wie kommt es dann, dass wir solch einen natürlichen Prozess so verabscheuen? 
Ist da etwas mit der Natur falsch? 
Oder ist etwas mit uns verkehrt, 
mit unserer Art und Weise, wie wir über das Altern denken?
Wie fühlen sich alte Menschen tatsächlich in diesem gefürchteten Alter?
 Wissenschaftliche Untersuchungen über Glücklichsein im Verhältnis zum Alter zeigt eine U-förmige Kurve. 
Junge und alte Menschen sind am glücklichsten. 
In der Mitte des Lebens ist es eher so, 
dass wir unglücklicher sind als in unserer Jugend. 
Untersuchungen zeigen, dass alte Menschen sogar 
etwas glücklicher sind als junge Leute. 
Wie ist das möglich? 
Wie kann das sein, dass obwohl Altern mit so vielen Problemen verbunden wird, Menschen sich trotzdem glücklicher fühlen?
 Lasst uns den Lebenszyklus eines menschlichen Wesens aus einer spirituellen Perspektive her anschauen.
Geburt: der Verlust unserer selbst
Aus einer spirituellen Sicht ist die Geburt ein Eintauchen in die Materie. 
Wir verlassen das Reich der Seele, 
eine Atmosphäre von Freude und Frieden.
 Im Reich der Seele existieren die Einschränkungen von Zeit und Raum nicht, ebenso wenig das Gefühl der Trennung, das wir auf Erden erfahren.
 Freiheit ist ein natürlicher Zustand. 
Mehr noch, alles um uns herum strahlt Schönheit, Liebe und Harmonie aus,
 Angst und Leiden gibt es nicht. 
Nichtsdestoweniger akzeptieren wir an einem bestimmten Punkt die Einladung von Mutter Erde als menschliches Wesen geboren zu werden.
 Mit jeder Geburt beginnen wir einen langen Abstieg in die physische Atmosphäre und die Verbindung mit ihr.
 In der alten Literatur wird die Geburt einer inkarnierten Seele als die "Fesselung der Seele" genannt. 
Die Seele landet im restriktiven, dichten Reich der Materie, in der jedes Wesen vom anderen getrennt erscheint. 
Die Seele hat Schwierigkeiten, in dieser Atmosphäre ihre natürliche Schwingung zu halten;
 sie gehört dort nicht hin und sie kann nur überleben, 
indem sie sich regelmäßig zurück zieht.
 Dieser Rückzug ist das, was wir Schlaf nennen und er ist nicht nur essentiell für unseren Körper, sondern auch für unsere Seele.
Auch wenn die Geburt den Beginn einer neuen Inkarnation markiert,
 ist der Prozess des Abstiegs der Seele noch lange nicht vorüber. 
Ein weiterer Abstieg erfolgt um das vierzigste Lebensjahr herum. 
In dieser Zeit hat der Abstieg in die Materie seinen Höhepunkt erreicht: dann bewohnen wir als Erwachsener völlig den Bereich von Materie 
und menschlicher Gesellschaft. 
Aus der Perspektive der Seele sind wir nun am weitesten entfernt von der Quelle, dem himmlischen Reich, aus dem wir kamen. Am tiefsten Punkt unserer Inkarnation ist der Abstand zu unserem Ursprung am größten. Während der Kindheit ist die Verbindung mit der ursprünglichen Sphäre der Seele immer noch stark. Kinder sind oft intuitiv, spontan freudvoll und gehen völlig im Moment auf; diese Qualitäten sind für die Seele völlig natürlich.  Das Leben zu genießen und auf spielerische Weise zu erkunden, ist völlig natürlich für die Seele. Unglücklicherweise wurde unsere Gesellschaft von einer verzerrten, männlichen Auffassung von Spiritualität dominiert, die diese Qualitäten nicht als spirituell betrachtet, sondern sie als Zeichen von Unreife ansieht. Diese schwere und ernste Darstellung von Spiritualität stammt nicht aus dem ursprünglichen Christentum. In der Bibel finden sich immer noch Spuren der Seelenperspektive. In Markus 10:14 zum Beispiel sagt Jeshua: " Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht, denn ihnen gehört das Königreich Gottes."

Pubertät: der Abstieg nach unten

Vor dem Erreichen des Erwachsenenalters gibt es die Übergangsphase der Pubertät, gefolgt vom jungen Erwachsensein.  Das Bewusstsein steigt tiefer in die materielle Ebene hinab; der Abstand von unserer Quelle wird größer. Die natürliche Fröhlichkeit und das Selbstvertrauen der Kindheit geht verloren. Zweifel und Ängste steigen auf; nichts wird mehr als selbstverständlich genommen. Da gibt es Rebellion und Unsicherheit. Die Abwehr bezieht sich normalerweise auf die Umgebung: die Eltern, die Schule, die Gesellschaft generell - all das ist oft unter kritischer Prüfung. Unbewusst ernten diese die Schuld für den Verlust, den die Teenager und jungen Erwachsenen fühlen. Aber letztlich ist ihre Rebellion gegen die innere Entwicklung gerichtet: den tieferen Abstieg in den irdischen Bereich und ein weiteres Loslassen der Quelle.

Im Reich der Seele ist es völlig natürlich, einen einzigartigen Platz im Ganzen zu haben. Niemand bezweifelt sein Recht zu existieren und jeder weiß intuitiv, welche Rolle er im großen Ganzen spielt. Das Wissen, dass der Kosmos nicht vollständig ist ohne uns, dass jeder ein integraler Teil der größeren Ganzen ist, gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und Versorgtseins. Während der Pubertät geht dieses Wissen verloren und das führt zu einer Identitätskrise. Diese Krise mag so überwältigend sein, dass junge Menschen süchtig nach Drogen oder Alkohol werden und in manchen Fällen sogar Selbstmord begehen. Solche Verzweiflungstaten entspringen oft einem tiefen Verlangen, die Verbindung mit der Seele wieder herzustellen. Glücklicherweise ist Widerstand nicht das einzige, was in dieser Periode passiert. Pubertät und Erwachsenwerden sind auch Zeiten, in denen viele Aspekte des irdischen Lebens mit  Begeisterung und Neugier erforscht werden. Wir mögen uns für Natur, Musik, Literatur interessieren, oder neue und provokative intellektuelle Ideen verfolgen. Das Interesse an anderen wächst: Wir verlieben uns zum ersten Mal.

Vielleicht zum ersten Mal nehmen wir unsere Originalität, unsere Individualität wahr. Jede Seele ist einzigartig und nimmt ihre eigenen Samen mit zur Erde, Samen, die während der Kindheit keimen und sich während des Erwachsenwerdens aus dem Boden erheben. Oft tauchen in dieser Lebensphase originelle Gedanken und Gefühle auf, die einen dauerhaften Einfluss auf unsere Zukunft haben und im Erwachsenenalter klare Gestalt annehmen. Wenn alles gut geht, fällt der Verlust der Kindheit zusammen mit einer Periode der Wiederentdeckung dessen, wer wir sind, unabhängig von unseren Eltern und unserer Erziehung. Diese Wiederentdeckung sorgt auf lange Sicht dafür, dass die Rebellion sich legt und der Strom des Lebens uns zu neuen und aufregenden Plätzen bringt. Das wertvollste Geschenk, was man jemand in der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter geben kann, ist Vertrauen. Zuversichtlich zu sein, dass es da einen Weg und einen Ort gibt in dieser verwirrenden Welt, ohne Rücksicht darauf, wie "anders" sie sind, ungeachtet ihrer scheinbaren Unfähigkeit irgendwo hinein zu passen. Es ist exakt diese Originalität, ihre Individualität, die die Welt braucht und die den einzigartigen Beitrag ihrer Seele darstellt.

Erwachsenalter: ein Tiefpunkt in unserem Leben

Das Erwachsenenalter, der physische Höhepunkt des Lebens, ist aus der spirituellen Sicht der Tiefpunkt des Lebens. Der Abstand zum Bereich der Seele - von unserer eigenen Seele - ist nun am größten. Wir befinden uns nun am weitesten entfernt von unserem spirituellen Ursprung. Wir sind jetzt völlig eingetaucht in die materielle Ebene, und wir  haben uns identifiziert mit unserer menschlichen Persönlichkeit und unseren Errungenschaften. Während dieser Phase sind Menschen normalerweise am unglücklichsten. Die physische Welt mit ihren Gesetzen und Restriktionen wird nun als die einzige Realität erfahren. Eine Menge Sorgen drehen sich um Geld und Besitz, um sozialen Status und harte Arbeit. Diese Fixierung macht, dass Menschen sich noch mehr vergessen. Die Identifizierung mit der materiellen Ebene im Erwachsenenalter ist oft so stark, dass wir dazu tendieren zu glauben, dass das alles ist, was es da gibt und sich das Leben nur um diese Dinge dreht. Es mag da spirituelle Glaubenssätze geben, aber oft stammen sie aus den traditionellen Religionen, die hauptsächlich auf Angst und Dogmen basieren. Die traditionellen Religionen haben ein verzerrtes Bild von Spiritualität und oft schaden sie mehr, als sie nutzen. Das Wichtigste, was ein Erwachsener aus spiritueller Sicht tun kann, ist die Samen zu hegen, die er oder sie als Seele zur Erde gebracht hat und sie zu wunderschönen Blumen wachsen zu lassen. Das ist unsere wirkliche Mission, und wir können sie nur erfüllen , indem wir aufrichtig uns selbst gegenüber bleiben, indem wir uns nicht durch den Druck und die Regeln der Gesellschaft gängeln lasen.

Ziemlich oft scheitert diese Mission. Als Erwachsene sehen wir die Ideale der Jugend und der Pubertät, die Träume und Wünsche der Kindheit als naiv und undurchführbar an. Obendrein passen sie nicht in das, was die Gesellschaft zu erwarten scheint und als realistisch ansieht. Authentische Wege des Selbstausdrucks, die immer noch da sind, werden oft als egoistisch, unverantwortlich oder sogar krankhaft etikettiert.

"Verhalte Dich normal, benimm Dich wie eine verantwortlicher Erwachsener." Wir sollen in die soziale Form passen oder wir gehören nicht dazu. 40 Stunden in der Woche arbeiten und drei Wochen Ferien im Jahr. Ich erinnere mich an meine Traurigkeit, als ich in den Kindergarten kam. Im Alter von vier Jahren konnte ich schon ahnen, was für mich vorgeplant war: Jahre um Jahre der Schule und dann Arbeit. Ich fragte mich, wann ich jemals wieder frei sein würde. Am Ende der Grundschule wurde ich während eines Tests gefragt, was ich später im Leben werden wollte und meine Antwort war "Privatier". Ich wollte einfach wieder frei sein; ich wollte nicht in ein System gepresst werden, was mir vorschrieb was ich zu tun und zu lassen hätte.

Glücklicherweise war es mir während meines Erwachsenenlebens möglich, einen komfortablen Teilzeitjob zu bekommen, der mir erlaubte, nicht mehr als drei Tage die Woche zu arbeiten. Andere Leute fanden es merkwürdig, dass ich als erwachsener Mann keine Karriere machte, wenig Ambitionen hatte und es vorzog, durch die Natur zu wandern, Bücher zu lesen und philosophische Gespräche mit meinen Freunden zu führen. Erst in meinen Vierzigern realisierte ich, das das akzeptabel und sogar praktisch war, so anders zu sein. Ich machte meine Hobbies (über Philosophie und Spiritualität nachzudenken, Hypnotherapie zu praktizieren) zu meiner Arbeit. Schließlich ließ ich auch den Teilzeitjob los. Ich entdeckte, dass ich frei sein konnte, Dinge tun, die ich wirklich mochte und außerdem damit meinen Lebensunterhalt verdienen. Der Schlüssel war Vertrauen: an meine ursprünglichen und einzigartigen Gaben zu glauben, die meine Seele in sich trug und darauf zu vertrauen, dass die Erde mich willkommen heißen und mich für das Teilen meiner Gaben belohnen würde. Mit dieser Erkenntnis begann ich den Weg nach "oben", den Weg zurück zu meiner spirituellen Natur. 

Altern: der Weg zurück nach "oben"

Wenn wir älter werden, beginnen wir wieder den Weg nach "oben", zurück zur Seele. Der Tiefpunkt der vollen Inkarnation in und der Identifizierung mit der materiellen Ebene ist vorüber. Wir können diesen einseitigen Fokus loslassen, und wir werden oft genug dazu angespornt durch die Herausforderungen des Lebens, die uns begegnen oder dass wir mit der zunehmenden Zerbrechlichkeit unseres Körpers konfrontiert zu werden.

Wir bewegen uns wieder nach "oben" um schließlich wieder zur Quelle zurück zu kehren. Die natürliche Bewegung des Alterns ist das Wachstum zum Licht hin, der Identifizierung mit der größeren Realität unserer Seele, anstatt mit der endlichen und begrenzten Realität unseres Körpers und unserer Persönlichkeit.

Aus einer spirituellen Sicht heraus werden wir mehr anstatt weniger, wenn wir altern: Weisheit, Vertrauen und Freude können sich viel eher entfalten. Ein menschliches Wesen, das natürlich und anmutig altert, ist sich dessen bewusst, dass es da viel mehr gibt, als sein irdisches Selbst. Alternde Menschen  realisieren, dass ihr wahres Selbst über die Rollen hinaus geht, die sie auf der materiellen Ebene des Lebens gespielt haben. Indem der Griff dieser Realität sich vermindert, beginnen sie sich wieder zu erinnern, wer sie wirklich sind: ein ewiges Wesen aus lebendigem Licht.

Unglücklicherweise wird dieser natürliche und anmutige Prozess oft durch die tief eingegrabenen sozialen Glaubensmuster behindert. Wir leben in einer Gesellschaft, die im Großen und Ganzen daran glaubt, dass die physische Realität alles ist, was es da gibt, dass kein wahres Selbst über das irdische Selbst hinaus existiert und daher alt werden eine schlechte Sache ist. Die Menschen haben sich völlig mit ihrem physischen Körper und ihrer Persönlichkeit identifiziert. Älter werden wird verbunden mit Verlust und Verfall, mit einer Bewegung hin zu einem Nichts. Viele Menschen wehren sich daher gegen den Prozess des Alterns, und dieser Widerstand unterbricht den natürlichen Aufstieg in Richtung Seele und zu mehr Licht und Freude. Dem Alterungsprozess zu widerstehen, erschafft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Was Du fürchtest wird wahr, weil Du es fürchtest. Der Widerstand führt dazu, sich am Körper und der physischen Dimension festzuklammern. Dieses Klammern ist ein Leugnen und ein sich Abkehren vom Inneren Licht und das hat eine Reihe von tragischen Konsequenzen für einen alternden Menschen.

- Als erstes kann der alternde Körper ungemein von einer tiefer gefühlten Verbindung mit der Seele profitieren. Wenn eine Person sich während dem Alterungsprozess mit der Seele verbindet, fließt die Energie der spirituellen Ebene stärker durch ihren Körper. Der Körper wird aufgerichtet und revitalisiert durch das Licht und die Freude und bekommt dadurch eine Extraportion Stärke und Gesundheit. Die Beschwerden des Alters haben kaum einen Effekt auf ihn. Aber wenn das Bewusstsein sich nicht auf das richtet, was jenseits des Irdischen liegt, und wenn jemand verzweifelt am Irdischen hängt, muss der Körper ohne diese zusätzliche Energie auskommen. Das verstärkt das Risiko von gesundheitlichen Problemen.

- Zweitens können in einer Gesellschaft als Ganzes ältere Menschen eine wichtige Rolle erfüllen: spirituelles Gewahrsein und Weisheit an die jüngere Generation ausstrahlen, die ihre Aufmerksamkeit auf den irdischen Bereich und den Anforderungen der Gesellschaft gerichtet haben. Ältere Menschen können durch ihre Lebenserfahrung und ihre wachsende Verbindung mit der Dimension der Seele einen positiven Einfluss auf jüngere Menschen haben, indem sie ihr Licht teilen, ihre Einsicht und ihre Leidenschaft. Sie können eine größere Perspektive auf Dinge anbieten und mit Geduld zuhören. Natürlicherweise nimmt jeder in älteren Menschen mehr Weisheit, Frieden und Gelassenheit wahr.

Der positive Einfluss von älteren Menschen kann sich auf verschiedene Weisen ausdrücken: von einer einflussreichen spirituellen Persönlichkeit bis hin zu einer netten weisen Oma, an die sich alle aus der Familie um Rat wenden. Auch gibt es Schreiber, Künstler und Therapeuten, die in einem sehr fortgeschrittenen Alter ungewöhnliche Arbeit machen und unbewusst viel andere Menschen inspirieren.

Ältere Menschen sind eine Brücke zwischen dem Bereich der Zeitlosigkeit und dem praktischen Alltagsleben. Eine Gesellschaft, die den Wert des Alters nicht erkennt, ist eine Gesellschaft, die ihre Verbindung mit dem Spirituellen verloren hat. Wir erleben dann eine Gesellschaft, die Amok läuft: Schaut Euch einfach nur mal um.

Wenn der alternde Mensch nicht seinen natürlichen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann, leiden beide Seiten, die Gesellschaft und die Alten. Das Leben der Älteren wird einsam, klein und langweilig. Ist es nicht tragisch, dass in einem Alter, wo das menschliche Wesen am besten für spirituelle Arbeit geeignet ist, sie ins Abseits geschoben werden? Habt Ihr jemals gehört, dass ein Autor oder Künstler an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag aufgehört hat zu arbeiten? Stellt Euch einfach nur mal vor, wie viele große Bücher und Kunstwerke es nicht gäbe, wenn sich diese Menschen an die ungesunde Regel gehalten hätten, mit fünfundsechzig mit ihrer Arbeit aufzuhören. Zur Zeit lese ich die Memoiren von Claude Lanzmann, der 1925 geboren wurde und der den Film "Shoah" gemacht hat. Auf jeder Seite bin ich berührt und erstaunt über die Gelehrsamkeit, die Weisheit und dem Reichtum dieses Buches. Entsprechen den Standards unserer Gesellschaft hätte dieser Mann mehr als zwanzig Jahre früher in den Ruhestand gehen sollen und nichts mehr tun! Absurd! Ältere Menschen werden klein gemacht und machen sich selbst klein: physische und mentale Degeneration sind das Ergebnis.

Altern: fünf Vorschläge, den Weg zu erleichtern

Um einen natürlichen, anmutigen Weg zu finden, in unserer Gesellschaft zu altern, die solch negative Bilder über das Altern hat, ist radikales Umdenken nötig. Hier sind einige Vorschläge:

Vergiss alles, was Dir die Gesellschaft über das Altern und das Altsein erzählt

Die Sicht der Gesellschaft auf das Altern ist nicht spirituell. Sie betrachtet menschliche Wesen nicht als Träger einer zeitlosen Seele, sondern als physische Organismen, die zunehmend zusammenbrechen und nutzlos werden. Aber jeder Mensch, der das Leben mit einem offenen Herzen und einem offenen Geist erfährt, wird zu dem Schluss kommen, dass es mehr mit dem Leben auf sich hat als nur das. Leben hat eine spirituelle Dimension und diese Dimension ist wesentlich fundamentaler als die physische. Als Ältere können wir mit dieser Dimension viel leichter in Kontakt kommen und Inspiration und Stärke daraus ziehen.

Erkenne, dass nichts jemals verloren ist

Nichts und niemand geht "in der Nacht" verloren; alles von Wert bleibt. Eines der ersten Dinge, die wir heraus finden, wenn wir sterben und Zugang zu der anderen Seite haben, ist, dass alles immer noch da ist. Unsere Familienmitglieder und lieben Freunde, die Welt unserer Kindheit, unsere liebsten Erinnerungen - alles ist immer noch da. Und wir können uns mit unseren Liebsten verbinden oder einige Erfahrungen wieder erleben, wenn wir das möchten - es ist alles für uns da. Indem wir mit dem Fluss des Lebens gehen und uns dem Alterungsprozess hingeben, reichen wir in diese zeitlose Dimension hinein, wo alles von wirklicher Substanz aufbewahrt ist. Wenn wir es wagen loszulassen, können wir flüchtige Einblicke in diese Dimension gewinnen. Dann können wir erkennen, dass auf der inneren Ebene nichts verloren ist - und dieses innere Wissen bringt Frieden und Gleichmut.

Geh in die Welt hinaus. Das ist die Zeit, Dein Licht strahlen zu lassen. Es wird der Gesellschaft und Deinen Mitmenschen dienen.

Jüngere Menschen verstehen die älteren oft nicht. Wie können sie so annehmend, friedvoll und glücklich sein, wenn sie täglich mit dem Verlust von Gesundheit und Fähigkeiten konfrontiert werden, gefolgt vom Tod? Die Antwort ist, dass die Älteren ein inneres Wissen haben, worüber die Jüngeren noch nicht verfügen. Ältere Menschen sind oft geprägt und gereift durch die Lebenserfahrungen, die sie milder und nachdenklicher gemacht haben, als die durchschnittliche junge Person. Eine ältere Person muss mehr loslassen und sich öfter unterwerfen. Daraus entsteht ein Gleichmut, der Frieden und Glück bringt. Die Älteren würden der Gesellschaft und ihren jüngeren Mitmenschen einen großen Dienst erweisen, wenn sie sich ihrer Gaben bewusst wären und sie teilen würden. Wirf einen aufrichtigen Blick auf das, was die Welt heutzutage braucht: neue Handys, schneller Autos? Nein: Weisheit, Ruhe und Friedfertigkeit. Ist es nicht das, was Ältere anbieten können?  

Betrachte die Rollen, die Menschen spielen, als relativ. Nimm sie nicht so ernst.

Leben ist ein Spiel. Menschen (sprich Erwachsene), die vollständig in diesem Spiel aufgehen, nehmen ihre Rolle sehr ernst. Lass Dich nicht zu sehr von dem Spiel aufsaugen, halte etwas Abstand. Durchschau es; beobachte, wie die Spieler ihren Part spielen. Die menschliche Gesellschaft als ein Spiel zu betrachten, das Menschen spielen, macht es einfacher, die Standards und Erwartungen loszulassen, die damit verbunden sind. Es macht es einfacher, die Rollen loszulassen, die wir gewohnt sind zu spielen - als Eltern, Angestellter, usw., usw. - und ein neues Kapitel in unserem Leben zu öffnen.

Vertraue auf das Leben. Vertrau darauf, dass das Leben Dir neue Erfahrungen bringt, neue Rollen, die besser zu der Person passen, die Du jetzt bist, nicht der Person, die Du gewesen bist. Durch das Loslassen der Vergangenheit, durch das sich hingeben, öffnest Du Dich für etwas Neues, und Du magst andere Seiten an Dir kennen lernen. Wenn Du an etwas fest hältst, was nicht mehr länger passend für Dich ist, wird ein Gefühl des Verlustes und der Leere entstehen. Vertrau dem Leben und lass los.

Identifiziere Dich nicht länger mit Deinem Körper und der physischen Welt, sondern mit Deinem Bewusstsein.

Sich mit Deiner Rolle in der physischen und sozialen Welt zu identifizieren bringt Spaß und ist interessant, solange Du Dir darüber bewusst bist, dass es ein Spiel ist. Für eine Weile bist Du völlig davon absorbiert und dann lässt Du wieder los. Auf diese Weise gehst Du durch eine große Bandbreite von Erfahrungen und Deine Seele wird dadurch bereichert. Es ist völlig natürlich sich während einer bestimmten Periode in Deinem Leben mit den Rollen zu identifizieren, die Du spielst, aber es ist ebenso natürlich, an einem gewissen Punkt zu spüren, dass es Zeit ist, loszulassen und zu realisieren, wer Du über diese Rolle hinaus noch bist. Das wird normalerweise geschehen, wenn Du älter wirst.

Stell Dir vor, Du steuerst ein Auto. Wenn Du denkst, dass Du das Auto bist, wird es schrecklich sein, wenn etwas damit passiert. Wenn Du Dir bewusst bist, dass Du der Fahrer bist, ist es nicht so schlimm: Du weißt, dass Du nicht das Auto bist und kannst einfach aussteigen.

Stell Dich mal vor einen Spiegel und schau Dir das Spiegelbild an: sieh, wie Dein Gesicht älter geworden ist. Aber hinter Deinem Gesicht, Deinen Augen, ist etwas, was nicht altert und zeitlos ist: Dein Bewusstsein. Fühle es. Indem Du Dich mit Deinem Bewusstsein identifizierst und nicht mit Deinem alternden Körper, gehst Du mit dem natürlichen Fluss des Alterns. Die Verbindung mit dem, wer Du wirklich bist, mit der Dimension Deiner Seele, vertieft sich.

Der Segen des Alters

Es ist nichts verkehrt mit einer alternden Bevölkerung. Ältere Menschen sind deutlich glücklicher, eine alternde Bevölkerung bedeutet, dass die Gesellschaft als Ganzes zufriedener wird.

Das proportionale Ansteigen der alternden Bevölkerung bedeutet auch ein Ende der schrecklichen Bevölkerungsexplosion, die ein Aussterben von so vielen Tieren und Pflanzen verursacht hat. Wir gehen in eine Zukunft mit weniger Menschen auf der Erde und daher werden die Menschheit und die Natur mehr im Gleichgewicht sein.

Als ein Ergebnis der wachsenden Anzahl älterer Menschen wird es unmöglich, sie zu ignorieren oder sie klein zu machen. Die Gesellschaft wird gezwungen, ihnen einen angemessenen Platz zu geben. Und Ältere werden herausgefordert, sich diesen Platz zu nehmen. Die absurde Logik, die Menschen in, aus einer spirituellen Sicht gesehen, fruchtbarsten Phase ihres Lebens auf das Abstellgleis schieben will, wird ein Ende finden. Das bedeutet, ältere Menschen werden sich nicht mehr länger verstecken, sondern erlauben, ihr Licht strahlen zu lassen.

Ältere Menschen bringen der Gesellschaft Weisheit, Frieden und Gelassenheit. Die Menschheit hat sich verirrt und ist in einer großen Schwierigkeit, sich mit der zeitlosen Realität der Seele zu verbinden. Eine Gesellschaft, die die natürlichen Segnungen und Gaben des Alters ernst nimmt, wird eine Gesellschaft sein, die sich auf die Harmonie zwischen menschlichen Wesen und Harmonie mit Mutter Erde fokussiert, anstatt auf das Fortführen von Erfolg und Ausbeutung unseres Planeten. Es wird auch eine Gesellschaft sein, in der es weniger Angst vor dem Tod und dem Altsein geben wird. Älter werden wird als ein gnadenvoller Prozess wahrgenommen und als eine schrittweise Rückkehr in die Quelle des Lichts, aus der wir alle stammen.

© Gerrit Gielen


Übersetzung Gabriele Rothe