Donnerstag, 21. Januar 2016
Das Mädchen und das Meer
gefunden bei Seelenführung
Es war einmal ein kleines Mädchen, das auf die Welt gekommen war, um Liebe zu
geben. Ihr Name war Marie. Sie war ein ernstes Kind mit einem großen Herz. Ihr
großes Herz zu verschenken, war aber gar nicht so einfach. Manchmal buk sie
ihrer Mutti Kuchen, um ihr eine Freude zu machen. Aber die Mutter machte sich
nichts aus Süßem. „Kommt Ihr spielen?” fragte sie ihre Freundinnen, denn sie
hatte sich eine Überraschung für sie aus gedacht. Aber ihre Freundinnen hatten
heute keine Zeit für sie. „Willst du mit mir gehen?” fragte sie einen Jungen,
den sie mochte. Doch der mochte ein anderes Mädchen lieber.
Als Marie erwachsen war, wollte sie herausfinden, wie das Leben funktioniert.
Sie zog von der Stadt auf’s Land, um sich Gedanken zu machen. Dort machte sie
jeden Tag lange Spaziergänge am Meer und beobachtete die See, die Wolken und
die Tiere auf ihrem Weg. Von den Hasen lernte sie, wachsam zu sein. Die
majestätischen Schwäne zeigten ihr, dass man seiner Kraft vertrauen konnte.
Das Meer war jeden Tag anders. Mal war es sanft-romantisch und dann wieder
beängstigend stürmisch. „Das Meer und ich sind sich ganz ähnlich”, dachte sie.
„Ich habe viele Facetten. Mein Naturell ist Sanftmut, aber wenn der Wind mich
reizt, kann auch ich zum wirbelnden Orkan werden.” Weil sie keinen anderen
Gesprächspartner hatte, begann sie einfach mit dem, was ihr begegnete, zu
sprechen.
Am Strand lagen viele Steine. Sie waren im Laufe der Jahre ganz rund geschmirgelt
worden. „Wer ist stärker, Ihr oder das Meer?”, fragte sie.
„Wir sind uns ebenbürtig”, antworteten die Steine. „Wir kümmern uns nicht
darum, ob steter Tropfen den Stein höhlt, denn unsere Aufgabe ist es, hier am
Strand zu liegen und in vielen Jahren zu feinem Sand zu werden. Dabei hilft uns
das Meer. Wir sind ein starkes Team.”
Auf dem Weg lief sie an großen Bäumen vorbei. Die Bäume reckten ihre blattlosen
Äste in den Winterhimmel. Sie waren ganz ruhig. Nur ab und an raschelten die
Zweige im Wind. „Ihr großen Bäume”, rief Marie, „wie kraftvoll und erhaben Ihr
seid! Ihr macht euch keine Gedanken, sondern ruht einfach inmitten der Natur.
Wie macht Ihr das bloß?”
„Es ist ganz einfach”, antworteten die Bäume. „Du musst dich nur ergeben. Wir
machen das Beste aus unserem Schicksal. Als unser Samen auf die Erde fiel,
hatten wir keine Wahl, ob er auf fruchtbarem oder unfruchtbarem Boden Wurzeln
schlug. Wir haben aus dem Samen einen Baum gemacht und sind einfach immer
weiter in den Himmel gewachsen.”
„So wie Ihr bin ich auch”, sagte Marie. „Ich habe Wurzeln in der Erde und
strebe nach dem Himmel. Ich werde mir Euch zum Beispiel nehmen.”
Eines Tages hatte ihre Katze einen Vogel gefangen. Marie brachte den Vogel in
Sicherheit. Sie beobachtete, wie er in seinem Käfig herum flatterte. „Sei
ruhig, kleiner Vogel, wenn du dich erholt hast, werde ich dich freilassen”,
flüsterte Marie. Er weiß nicht, dass sein Vogelparadies ganz nah ist und
versucht das Einzige, was in seiner Macht steht – zu entkommen, dachte Marie. Wir
Menschen sind nicht anders. Anstatt auf den großen Plan zu vertrauen, flattern
wir nervös herum und bemühen wir uns ständig, irgend etwas zu tun. Wenn wir das
Ganze sehen könnten, würden wir vertrauen und abwarten. Der Vogel weiß nicht,
dass eine größere Macht ihn bald freilassen wird. „Flieg, süßer Freund”, rief
Marie, als sie den ihn in die Freiheit entließ.
In der Nacht schaute Marie in den Sternenhimmel. „Brüder und Schwestern”, rief
sie, „wann werden wir endlich wieder vereint sein?” „Hab Vertrauen”,
antworteten die Sterne, „es wird nicht mehr lange dauern. Die Welt verändert
sich. Was oben war, wird fallen. Was unten war, steigt auf. Es ist der Beginn
einer neuen Dimension. Bald werden wir alle in Liebe zusammen stehen. Wir sind
bei Euch, während dies geschieht. Vertraue und habe Geduld.”
Zum ersten Mal fühlte sich Marie nicht mehr allein. Sie wusste, dass sie mit
allem verbunden war. So wie die Blätter jeden Baumes einen Baum ausmachen, so
wie die Körperzellen einen Menschen ausmachen, so machen auch die einzelnen
Menschen das Große Ganze aus. Nichts ist getrennt, alles gehört zusammen. Ich
lebe in einer großen Zeit, dachte Marie. Jetzt weiß ich endlich, wie das Leben
funktioniert. Und sie beschloss, ihr großes Herz von nun an dem Leben zu
schenken.