Wie jeden Tag war es
etwas hektisch am Frühstückstisch. Gegen alle Vereinbarungen mit der strengen
Dame des Hauses,
scrollte Papa Thomas hastig auf seinem Tablet die neuesten
Schlagzeilen
durch und bekleckerte sich prompt mit einem Tupfer Marmelade,
der ungeniert
vom Brot rutschte und auf der Krawatte landete.
„Mist!“, lautete sein knapper
Kommentar dazu.
Die rasche Hilfe erfolgte durch die Zunge seiner kleinen
Tochter Lizzy,
die blitzschnell und kichernd den Klecks abschleckte und mit
kurzem
Rubbeln die letzten Spuren beseitigte.
Sie schaffte es auch noch, die
Hülle seines Tablets zuzuklappen,
bevor die strenge Dame Mama niesend und
hustend in die Küche kam,
um vor dem geliebten Morgenkaffee ein halbes Dutzend
Grippetabletten
mit lauwarmem Wasser hinunter zu spülen.
„Schatz, du siehst
elend aus“, provozierte Papa Thomas charmant,
weil er es viel lieber gesehen
hätte, wenn seine Frau im Bett geblieben wäre,
um endlich ihre Verkühlung
auszukurieren.
„Ich liebe dich
auch!“, krächzte sie um eine Stimmlage tiefer als üblich
und schickte ihm einen
Kuss.
Dann strich sie ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht:
„Hast du
Papa schon gefragt?“
„Was gefragt?“,
fragte Papa.
„Nö, hab ich nicht.“
„Na, dann frag ihn
doch. Ich möchte es auch gerne wissen.“
„Was denn?“, wurde
Papa neugieriger.
„Papa, glaubst du an
Schutzengel?“
„Also...“ Diese Frage
kam zu plötzlich.
Er schien sichtlich überfordert. „Ob ich an Schutzengel
glaube?“
Am intensiven Blick
seiner Frau konnte er die gewünschte Antwort ablesen:
„Ja, ich glaube!“ Doch
tat er das?
Er wich aus: „Ist das für ein Schulprojekt? Werden alle Eltern
befragt?“
Die Tochter bestätigte seine Vermutung.
Sie und die strenge Dame des
Hauses glaubten selbstverständlich
an die beschützenden Freunde.
Sie waren Verbündete
auf ihrer Mission.
Im Schnellverfahren versuchten sie ihn mit allen möglichen
und haarsträubenden Argumenten zu überzeugen.
Die einzige Chance, den beiden zu
entkommen, war der Hinweis
auf die fortgeschrittene Zeit.
Nicht nur er, alle
mussten aufbrechen, um rechtzeitig anzukommen:
die kleine Prinzessin in der
Schule, Mama in der Kanzlei
und Papa bei einem Kunden.
Doch noch beim engen
Bekleidungsritual im Vorzimmer, zwischen Mänteln,
Jacken, Mützen und Schuhen,
forderten sie mitleidslos eine Antwort.
Er rettete sich in das salomonische
Bekenntnis: „Ich weiß es nicht.
Ich habe noch nie darüber nachgedacht.
Jedenfalls bin ich noch nie einem begegnet. Ich weiß es wirklich nicht.“
Er
bekam trotzdem seine Schmatzration für den Tag.
„Wenn ich das nächste Mal einen
sehe, Papa, dann zeig ich ihn dir.“
Er schmatzte zurück:
„Ihr seid meine Schutzengel!“
Wenige Minuten später
steckte er im vertrauten morgendlichen Verkehrsstau.
Im Radio warnten sie vor
heftigem Schneefall ab Nachmittag.
Dann diskutierten sie wie jedes Jahr darüber,
wer eine Woche vor Weihnachten bereits alle Geschenke im Trockenen hatte
und
wer wieder auf den letzten Drücker loszog.
Dazu wurden die bunte Welt der
Stars, die Politiker
und Möchtegern-Promis interviewt - für ihn ein erledigtes
Thema.
Papa hatte bis auf seine berühmten Kleinigkeiten längst alle Geschenke
erstanden, selbst verpackt und selbst versteckt.
Thomas liebte
Weihnachten, er liebte Weihnachtsshoppen im größten Trubel
und er liebte
Weihnachtsmusik am laufenden Band.
So gut wie jeder Weihnachtsmarkt in der
Stadt kannte ihn persönlich
und er träumte schon lange davon, einmal in der
Weihnachtszeit
nach New York zu fliegen, um vor dem Rockefeller Center,
im
Lichterglanz des größten Christbaumes der Welt,
auf dem wahrscheinlich
kleinsten Eislaufplatz der Welt
mit seiner Frau romantische Runden zu drehen.
Die Schneewarnung
freute ihn.
Heute war der Tag der Besorgung seiner berühmten Kleinigkeiten.
Sorgsam gewählte Aufmerksamkeiten für Freunde und Weg Begleiter.
Der Kundentermin
wurde mit reichlich Keksen, umspült von Kinderpunsch
und Fachsimpeln über
pädagogisch wertvolles Spielzeug,
angenehm erledigt.
Danach parkte er in einer
Tiefgarage.
Bevor seine Einkaufstour in der belebten Innenstadt begann,
studierte er noch einmal seine logistische Route.
Dann schnappte er seinen
Rucksack und startete mit „Jingle Bells“
auf den Lippen.
Dieser Song swingte
aus den Lautsprechern der Tiefgarage
und begleitete ihn im Aufzug bis auf die
Straße.
Obwohl es erst kurz
nach Mittag war, setzte bereits leichter Schneefall ein.
Thomas bedankte sich
bei den himmlischen Mächten.
Denn was wäre ein klassischer Weihnachtseinkauf
ohne den zauberhaften Eiskristallen?
In den nächsten
Stunden wurde die Liste sein Lebensinhalt.
Nach und nach hakte er Punkte als
erledigt ab und der Rucksack füllte sich.
Irgendwie hatte er das Gefühl, dass
die Menschen heute
besonders freundlich waren.
Lag das an ihm? An seiner
Glücksstimmung?
War er einfach aufmerksamer als sonst?
Dass ihm die mollige
Verkäuferin keuchend seine Handschuhe
hinterher brachte, wertete er schon als
besonderes Bemühen.
Und dann der obdachlose Bettler, der ihn wie einen alten
Bekannten grüßte,
noch bevor er ihm einige Münzen in seine Dose warf.
Der
hilfreiche Buschauffeur, der verständnisvolle Polizist,
die geduldige Kassiererin.
Alle schienen heute besonders liebevoll miteinander umzugehen.
Und alle
lächelten ihn an!
„Bin ich über Nacht auf Facebook berühmt geworden?“,
scherzte
er mit sich selbst.
Inzwischen war es
dunkel geworden.
Der Schneefall hatte an Dichte gewonnen.
Gemeinsam mit der
Weihnachtsbeleuchtung tauchte er den Platz
in winterlichen Adventzauber.
Der
sanfte Wind vermischte die Gerüche von Maroni, Glühwein, Zimt und
Bratäpfel,
Eierlikörpunsch und Bratwurst
und wehte sie in genießende Nasen.
Thomas fischte
sich seine letzte Maroni aus der Tüte.
Er wurde dabei sehnlichst beobachtet,
wie er die Schale entfernte
und bevor er das begehrte Stück in den Mund stecken
konnte,
bellte sein neuer Freund kurz auf. „Wie wär´s mit Teilen?“
Weil keine
Aufsichtsperson zu sehen war,
teilte er gerne und erntete heftiges
Schwanzwedeln.
Plötzlich, von einer
Sekunde zur anderen verstärkte sich der Wind erheblich.
Es wurde schlagartig
kälter und der Schneefall wurde noch intensiver,
sodass man kaum noch die Hand
vor den Augen erkennen konnte.
Instinktiv zog Thomas den Kragen höher und die
Mütze tiefer ins Gesicht.
Ohne genau zu wissen wohin, flüchtete er weg vom
Markt in die nächste
Gasse hinein, in der Hoffnung, in einem Lokal Schutz zu
finden.
Stattdessen schob ihn eine heftige Windböe direkt vor ein Kirchentor
und half ihm sie aufzudrücken.
Thomas stolperte hinein. In Sicherheit!
Er
atmete durch und klopfte sich den Schnee ab.
Nur wenige Seelen saßen vertieft
in in den Bänken.
Thomas wunderte sich, dass er noch nie hier gewesen war,
wo
er doch die Gegend gut kannte.
Stille, wie sie nur in Kirchen schweigt,
begrüßte ihn mit dezentem Weihrauchduft.
Er sah hinüber zu dem Meer an
brennenden Kerzen,
die sich stellvertretend für ihre Spender bedankten
oder für
eine Bitte leuchteten.
Er sah sich dort neben seiner Großmutter stehen und
stolz eine eigene
Wunschkerze entzünden, ohne je über seine Wünsche sprechen zu
dürfen.
„Das geht nur dich und die Mutter Maria etwas an“, hatte sie bestimmt.
Er hielt sich daran. Sie selbst spendete immer drei Kerzen.
Eine für ihre
Ahnen, eine für die Familie und eine für Opa.
Schon holte er Münzen aus der
Geldbörse, um die Tradition fortzusetzen.
Wieder drei Kerzen: für die Ahnen, die
Familie
und die dritte Bestimmung flüsterte: „Ich vermisse dich, Großmutter!“
Sanfte Wehmut befeuchtete seine Augenwinkel.
Ein älterer Herr
gesellte sich hinzu und begann aus einem Sack
die Kerzenkiste aufzufüllen.
Eine
davon drückte er dem verblüfften Thomas in die Hand:
„Die ist für dich! Mit
herzlichen Grüßen von deinem Schutzengel.“
Thomas starrte fassungslos
abwechselnd auf die Kerze und auf den Mann.
„Soll ich sie für dich anzünden?“
Das tat Thomas dann
doch selbst, allerdings mit drei Versuchen,
weil er so nervös war, wie der
kleine Junge von damals
. „Es ist so“, begann der Mann von seinesgleichen zu
erzählen:
„Im Allgemeinen sind wir nicht erkennbar.
Denn wenn wir in
Erscheinung treten, tun wir es in einer anderen Identität.
Zum Beispiel als
Taxifahrer, der sich bemüht mit banalen Witzen
deine miese Morgenlaune zu
motivieren.
Manchmal sind wir die hübsche Kellnerin hinter der Bar,
der du
leicht angeheitert dein verletztes Herz ausschüttest.
Manchmal sind wir der
Arzt, der dich operiert
oder auch die entzückende Katze, die deiner Einsamkeit
zugelaufen ist.
Und manchmal sind wir der Polizist, der verhindert,
dass du in
dein Unglück rast.
Manchmal sind wir das freundliche Gesicht im Supermarkt
oder
die helfende Hand über die Straße,
und manchmal hängen wir einfach nur als
Glücksbringer herum.
Wir sind auch die Inspiration des Künstlers für ein neues
Gemälde,
eine wunderbare Geschichte, einen berührenden Song.
Manchmal auch ein
stiller Gedanke und
manchmal sind wir etwas völlig Unerwartetes, das dein Herz
berührt.
Und manchmal sind wir der Priester, der die letzte Beichte nimmt.
Auch wenn du uns also
nicht bewusst wahrnimmst,
sind wir immer in deiner Nähe.
Wir sind
allgegenwärtig, Thomas.
Du weißt nie, wann du einem Engel begegnest!
Nun machte der Mann eine
kurze Pause, in der sich Thomas sicher wurde,
diese Augen zu kennen.
Der Mann
zwinkerte verschmitzt:
„Frohe Weihnachten, Thomas. Und liebe Grüße an Lizzi.“
Er hätte liebend
gerne etwas gesagt, er wäre gerne darauf eingegangen
oder hätte eine Frage gestellt,
doch im Überlegen, etwas zu sagen,
zu fragen oder darauf einzugehen, verschwand
der Mann.
So plötzlich wie er gekommen war.
Thomas blieben ein Stammeln und ein
zartes Schellengeräusch,
das in der Ferne verklang.
Als er an diesem
Abend seine kleine Prinzessin zu Bett brachte,
hatte er sich längst dafür
entschieden sein Erlebnis
als Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen.
Auch im
Beisein der großen Prinzessin.
„Ihr habt mich heute ziemlich unter Druck
gesetzt,
weil ihr wissen wolltet, ob ich an Schutzengel glaube.“
Lizzi
erinnerte ihn: „Du hast gesagt, du weißt es nicht.“
„Genau. Das habe ich
gesagt.“
Lizzi schien eine Vorahnung zu haben: „Hast du heute einen kennen
gelernt?
Beim Einkaufen vielleicht?“
Er zögerte, um die Neugierde anzuheizen:
„Also ... möglicherweise.“
„Wirklich?“ Lizzi
zappelte begeistert.
Thomas bestand darauf, dass alle ihre gemütliche
Sitzposition überprüften
, denn er wollte seine Geschichte so ausführlich wie
möglich schildern.
Mit geheimnisvoller
Stimme begann er zu erzählen:
„Es war schon später Nachmittag.
Ich teilte
gerade meine letzte Maroni mit einem vierbeinigen Streuner,
als plötzlich der
Wind zunahm.
Es wurde schlagartig kälter und der Schneefall nahm an Dichte zu,
sodass ich kaum noch die Hand vor meinen Augen erkennen konnte.
Als ich vor dem
Wetter flüchtete, landete ich in einer Kirche,
die mir noch nie zuvor in dieser
Gegend aufgefallen war...“
DANKE für diese Herzerwärmende Geschichte lieber LEO
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.