Montag, 16. Dezember 2013

Hingabe - der Schritt ins Ungewisse

 Hingabe - was ist das eigentlich?
Wen oder was geben wir da eigentlich hin?
Und wem gilt diese Hingabe?
Und warum?
Haben wir da was von, bekommen wir auch was zurück?
"©Martin ­Rubeau" über eine Annäherung an ­einen vielfach unverstandenen Begriff.
Hingabe –
dieser Begriff löst bei ­vielen Menschen unwillkürlich Unbehagen aus.
Die Vorstellung von Hingabe wird häufig verbunden mit Auslieferung, ja Kapitulation. Als käme man mit einer weißen Fahne aus einem Versteck und müsste sich auf Gedeih und Verderb einem fremden Diktat oder Zwang unterwerfen.
In diesem Sinn aktiviert die Vorstellung von Hingabe eine Urangst,
die viele Menschen kennen:
die Angst vor Auflösung,
die Angst, dass nichts mehr von einem übrig bleibt.
Sich unterwerfen heißt, die eigene Macht jemandem zu übergeben,
der mächtiger ist oder scheint als wir selbst.
Zu diesem Verhalten neigen wir, wenn wir uns selbst wertlos fühlen.
Diese Art, sich zu ergeben bzw. zu unterwerfen,
hat aus meiner Sicht nichts mit Hingabe zu tun.
Hingabe beschreibt einen Vorgang, der mit höchster Achtsamkeit verbunden ist. Alles, was mit Achtsamkeit geschieht, ist belebend, bereichernd und kraftvoll.
 Im „Tibetischen Buch vom Leben und Sterben“ zitiert Sogyal Rinpoche Buddhas Worte:
 „Einzig und allein durch Hingabe kann man die absolute Wahrheit erkennen.“
Und weiter führt er aus, Hingabe habe nichts mit kritikloser Anbetung
 oder dem Aufgeben der Eigenverantwortung zu tun, sondern vielmehr:
 „Wahre Hingabe ist eine stetige Empfänglichkeit für die Wahrheit.
 Wahre Hingabe hat ihre Wurzeln in einer ehrfurchtsvollen Dankbarkeit,
die zugleich klar, geerdet und intelligent ist." (*)
In diesem Sinne verstehe ich Hingabe als einen Akt der vollständigen Überantwortung an das Leben, als eine Einwilligung in das Leben.
Wenn wir uns hingeben, löst sich unsere Ego-Bezogenheit langsam auf,
 nicht aber unsere Intelligenz, unser Unterscheidungsvermögen, unsere Stärke. Hingabe bedeutet, uns dem Leben gegenüber voller Vertrauen,
 nackt und schutzlos zu präsentieren.
Eine solch offene Haltung ermöglicht es uns,
alle Bedingungen des Augenblicks mit einzubeziehen.
Hingabe an den Moment
Will ich also Hingabe üben, brauche ich ein Gewahrsein dessen,
was im jeweiligen Moment geschieht.
Dafür ist es hilfreich, die Wahrnehmung meiner Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zu verfeinern.
Es geht darum, sozusagen ein Lauschen nach innen und nach außen zu praktizieren. Ist aufgrund der äußeren Gegebenheiten Vorsicht angesagt,
wird sie sich im passenden Moment einstellen.
Die Abwehr möglicher Gefahren kommt dann nicht aus der Enge,
 sondern aus der Weite der offenen Grundhaltung.
Deshalb kann echte Hingabe nur aus einer inneren Stärke heraus entstehen.
Der große Gegenspieler der Hingabe ist die Angst.
Niemand sagt das so schön und eindringlich wie Hermann Hesse
 in seiner Geschichte: „Klein und Wagner“:
„In Wirklichkeit gab es nur eines, vor dem man Angst hatte:
 das Sich-fallen-Lassen, den Schritt in das Ungewisse ­hinaus,
den kleinen Schritt hinweg über all die Versicherungen, die es gab.
Und wer sich einmal, ein einziges Mal hingegeben hatte, wer einmal das große Vertrauen geübt und sich dem Schicksal anvertraut hatte, der war befreit.
Er gehorchte nicht mehr den Erdgesetzen, er war in den Weltraum gefallen
und schwang im Reigen der Gestirne mit.
So war das.
Es war so einfach, jedes Kind konnte das verstehen, konnte das wissen.“
Ein Großteil unseres Verhaltens zielt darauf ab, Hingabe zu vermeiden, um das Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins, der Nacktheit nicht erleben zu müssen. Wenn es uns gelänge, Gefühle von Ohnmacht anzunehmen und sie grundsätzlich zu bejahen, würden wir erkennen, dass Hingabe ohne Verletzlichkeit nicht zu haben ist. Dann könnten wir aufhören, uns selber ständig zu „schützen“.
Aktive und passive Hingabe
Wir können in der Erfahrung von Hingabe zwei Aspekte unterscheiden:
Da ist einerseits der eher aktive Teil der Hingabe.
Wir erleben ihn, wenn wir aktiv günstige Voraussetzungen für Hingabe schaffen. Andererseits gibt es den passiven, empfangenden Aspekt der Hingabe:
Da existiert etwas, das wir uns nicht erarbeiten können,
das uns nur geschenkt werden kann.
Ein Beispiel:
Ich kann mich bemühen, als Zuhörer während eines Vortrags ganz wach,
 aufmerksam und engagiert zu sein (aktiver Aspekt der Hingabe).
Wenn dann beim Zuhören das honigsüße Gefühl entsteht,
 dass mich nichts mehr von dem Vortragenden trennt,
wenn sich ein Gefühl der Einheit und Verbindung,
der Dankbarkeit und der Bereicherung einstellt,
dann ist dies der passive Aspekt – das Geschenk, die Gnade.
Die Hingabe an angenehme Dinge fällt den meisten Menschen leicht:
ein gutes Essen, ein freudiger Augenblick, eine schöne Landschaft, eine Verliebtheit. Kinder können sich mit ganzer Hingabe dem Spiel widmen.
 Sie lassen sich durch nichts stören, sie vergessen sich selbst im Spielen.
 Die Künstler des Barock haben Engel oft als hingebungsvoll spielende Kinder dargestellt.
Ein Forscher kann sich seiner Arbeit mit Hingabe widmen und so lange suchen,
bis er eine Lösung gefunden hat, selbst wenn es Jahrzehnte dauert.
Auch ein Handwerker, eine Putzfrau und ein Gefängniswärter können sich hingebungsvoll ihrer Aufgabe widmen.
 Je achtsamer wir eine Tätigkeit verrichten, desto näher kommen wir dem Zustand der Hingabe.
 Es kommt nicht darauf an, was wir tun, sondern wie wir es tun.
 Sehnsucht nach Hingabe
Mystiker und Heilige aller Traditionen geben sich ganz und gar Gott hin
bzw. dem, was ist.
Sie stellen sich zur Verfügung – so wie es im „Vaterunser“ heißt:
Dein Wille geschehe.
 Weil radikale Hingabe etwas mit Kontrollverlust zu tun hat, tun wir uns schwer damit. Doch zugleich gibt es in uns ein Wissen, dass dieses Leben in Kontrolle und Angst nicht alles sein kann, und es existiert auch eine Sehnsucht, uns rückhaltlos und vollständig dem Leben hinzugeben.
 Unentbehrlich auf diesem Weg ist Vertrauen:
Wer weiß oder glaubt, dass alles, was geschieht, letztlich gut ist und wird,
kann sich hingeben.
Hingabe bedeutet dann nicht Selbstaufgabe, sondern eher,
sich auf eine neue Art wieder zu finden:
„Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“
Hingeben kann ich mich nur nur dem, was JETZT ist.
Hingabe heißt JA sagen und Eins-Sein mit diesem Augenblick –
auch wenn ich nicht weiß, wohin dieses Einverstandensein mich führt.
 Ich gebe die Kontrolle ab,
 ich bin einverstanden mit dem, was geschieht.
 Spätestens im Augenblick unseres Sterbens werden wir Hingabe erleben:
Auch wenn wir uns vielleicht lange gewehrt haben,
letztlich können wir uns nur hingeben und loslassen.
Auch Jesus hat am Kreuz zunächst gehadert:
"Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Doch im Moment des Todes gab es kein Aufbegehren mehr,
nur noch Einverstandensein:
„Es ist vollbracht.“
Die Hingabe in der Liebe
Am geläufigsten ist uns die Vorstellung von Hingabe in der Liebe und in der Sexualität.
In einer Liebesbeziehung geben sich die Partner einander hin,
lassen sich aufeinander ein, verschmelzen zeitweise miteinander.
 Wer sich hingibt, kann sich selbst verlieren,
voller Vertrauen, dass er in liebende Arme fällt.
Wer einen anderen Menschen liebt, der gibt sich ihm hin, der möchte beides:
bei sich und beim anderen sein und so mehr Fülle, mehr Lebendigkeit erfahren. Hermann Hesse bringt dies auf die einfache Formel:
 „Wer lieben kann, ist glücklich!“
Im Sex als eins erleben
Auch in der liebevollen Sexualität können wir uns ganz hingeben und auf wunderbare Weise Einheit erleben:
Wir fühlen uns,
wir fühlen den anderen,
wir fühlen die eigene Lust
und die Lust des anderen
und manchmal erleben wir dabei alles als eins.
Vielen Menschen fällt es nicht leicht, sich hinzugeben.
Sie haben Angst, sich selbst dabei aufzugeben und zu verlieren.
Sie sind voller Misstrauen, dass ihre Hingabe missbraucht werden könnte.
Wo Vertrauen fehlt oder schwach ist, ist oft die Angst vor Fehlern
und das Bedürfnis nach Kontrolle ausgeprägt.
Kontrolle jedoch verhindert Tiefe in der Begegnung,
verhindert Liebe und Lebendigkeit.
Erleben von tiefer Verbindung
Anders herum ermöglicht Hingabe das Erleben von tiefer Verbindung.
In der Liebe neigen wir dazu zu glauben, dass wir uns dem anderen hingeben.
Doch in Wirklichkeit geben wir uns der Liebe, der Einheit, der Verbindung hin.
Khalil Gibrans Prophet sagt im Kapitel „Über die Liebe“:
„Wenn die Liebe dir winkt, so folge ihr,
sind ihre Wege auch schwer und steil.
Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin,
Auch wenn das unterm Gefieder ­versteckte Schwert
dich verwunden kann.“

Hingabe in der Liebe bedeutet die ­Bereitschaft, dem inneren Ruf,
 dem „inneren Gesetz“ zu folgen und dabei nicht nur die Freuden,
 sondern auch die ­Risiken der Liebe in Kauf zu nehmen.
Es lohnt sich sehr, das ganze Kapitel „Über die Liebe“ zu lesen – eine wunderschöne, poetische Beschreibung der Hingabe an die Liebe und somit an das Leben.

 © Martin P. Rubeau http://www.martinrubeau.de/