Donnerstag, 2. Dezember 2021
Die schönste Weihnachtsgeschichte der Welt
Wie geht es dir?
Der Mann hastet durch die weihnachtliche Einkaufsstraße.
Er
muss wohl um die 40 Jahre alt sein, dem Äußeren nach zu urteilen.
Der Mann
schwitzt und keucht, früher war er besser in Form gewesen.
In der linken Hand
trägt er einen Aktenkoffer,
in der rechten zwei riesige Einkaufstaschen.
Darin
befinden sich allerlei Geschenke,
denn heute Abend ist DER Abend: Heiligabend.
Plötzlich steht da dieses kleine Mädchen im Wege,
die beiden stoßen zusammen
und stürzen zu Boden.
„Mensch, pass doch auf, kleines Ding!“,
herrscht er das
Mädchen an, während er sich aufrappelt.
„Was hab ich denn getan?“, fragte das Mädchen mit zittriger
Stimme.
Sie ist ungefähr 8 Jahre alt.
„Warum schaust du nicht, wohin du gehst?“
„Aber du hast mich doch umgerannt.“ Sie fängt an zu weinen.
Dem Mann tut es leid.
„He, Kleine, war ja nicht so
gemeint.
Ich bin nur ziemlich im Stress. Habe es eilig.“
Nervös blickt er auf
seine Uhr.
„Aber deswegen musst du doch nicht so böse sein.“
Das
Mädchen wischt sich mit den Händen die Augen trocken.
„He, es tut mir leid, Kleine.
Komm, ich spendiere dir was
Süßes.
Als Entschuldigung.“
Eigentlich hat er ja keine Zeit,
muss noch die restlichen
Geschenke einkaufen.
Aber gut, fünf Minuten.
Die Augen des Mädchens strahlen.
„Danke, das ist lieb von
dir.“
Der Mann betrachtet die kleine Gestalt vor sich.
Sie wirkt sehr ärmlich
angezogen,
aber sie strahlt auch etwas seltsam Reifes aus.
Ihr Gesicht ist
ungewöhnlich ernst, aber es erscheint auch sehr friedlich.
Die langen, dunklen
Haare unterstreichen ihre wunderschönen,
tiefbraunen Augen.
Der Mann
kauft eine Tüte Süßigkeiten,
dann setzen sich beide auf eine Bank in der
Einkaufszone.
„Hast du es immer so eilig?“, fragt das Mädchen.
„Ja, meistens. Und heute besonders, es ist ja Heiligabend.
Ich muss doch noch Geschenke kaufen.“
„Aber du hast doch schon so viele, oder nicht?“,
fragt das Mädchen mit einem
Blick auf die beiden Einkaufstaschen.
„Ja, da hast du recht.
Man soll es auch nicht übertreiben."
Die Augen des Mädchens richten sich auf sein Gesicht.
Sie
hat unglaubliche Augen, fast ist es dem Mann,
als würde sich ihr Blick in die
Tiefe seiner Seele bohren
und dort nach etwas suchen.
„Warum rennen die Erwachsenen immer so?“, fragt das Mädchen.
„Weil sie es eilig haben, Kleine.
Es gibt viel zu tun, viel
zu erledigen.
Wir haben nicht so viel Zeit wie Kinder.“
„Was meinst du?“
„Na, genieße lieber die Zeit, in der du hier noch spielen
kannst.
Wird nicht mehr lange währen.“
Im gleichen Moment, in dem er diese verbitterte
(neiderfüllte?)
Antwort gegeben hat, ärgert er sich darüber,
dies einem Kind
gegenüber getan zu haben.
„Werde ich als Erwachsener nicht mehr spielen können?“,
will
das Mädchen wissen.
„Doch, wenn du Zeit dazu hast“, antwortet der Mann, um sie
zu beruhigen.
„Aber ich spiele doch jetzt auch nur, wenn ich Zeit dazu
habe.“
„Ja, nur wirst du später kaum noch Zeit dazu haben.“
Das Mädchen blickt einen Moment zu Boden: „Warum
nicht?“
„Das ist, glaube ich, immer so, wenn man erwachsen wird.
Man
spielt dann nicht mehr.“
„Ist es denn dann verboten?“
„Nein, Kleine, natürlich nicht.“
„Hast du denn nicht gerne gespielt?“
„Doch, ich habe sogar sehr gerne gespielt.“
„Aber wenn es nicht verboten ist, und wenn es dir Spaß
macht,
warum spielst du dann nicht mehr?“
Der Mann blickt nervös drein.
Erinnerungen werden wach.
Erinnerungen an diese großen Blumengewächse,
die hinten im Garten des Hauses
der Großeltern standen,
und deren farbenprächtige Blüten so himmlisch dufteten.
Beinahe ist es ihm, als läge dieser Wohlgeruch in der Luft,
als könne er
diese Blumen wieder riechen, jetzt, nach all der langen Zeit.
Warum kommt ihm
bei Erinnerungen an seine Kindheit
immer wieder dieses Bild in den Sinn,
wie er
gemeinsam mit seinem Großvater vor diesen Blumen steht?
Mitten im Sommer.
Warum
immer dieses Bild?
Ein Zupfen an seinem Mantel reißt ihn aus seinen
Gedanken.
„Träumst du?“, fragt das Mädchen.
„Nein, nein. Entschuldigung.“
„Warum also spielst du nicht mehr?“
„Weil ich keine Zeit mehr dazu habe. Ich muss viel arbeiten.”
„Macht dir denn die Arbeit Spaß?“
„Ehrlich gesagt, nicht mehr richtig.
Sie hat mir mal sehr
viel Spaß gemacht, aber jetzt nicht mehr.“
„Warum gehst du dann noch da hin?“
„Weil ich Geld verdienen muss.“
„Wofür?“
„Ich habe eine Frau und einen kleinen Jungen.
Ich muss das
Essen und die Wohnung bezahlen.“
„Magst du deine Frau und deinen Jungen?“
„Ja, natürlich mag ich sie. Ich mag sie sogar sehr.“
„Und sie mögen dich auch?“
„Natürlich!“, erwidert der Mann in fast schon barschem Ton.
Aber er weiß, dass es nicht so ist.
Es ist nicht
selbstverständlich, es ist einer Frage wert.
Wie oft sieht er seine Frau und
seinen Sohn?
Wann nimmt er die beiden bewusst wahr?
Während der Woche
unzählige Überstunden, Dienstreisen, Geschäftsessen.
Am Wochenende endlich Zeit
für seine Hobbies…
„Bist du jetzt böse mit mir?“
„Nein, Kleine, sicher nicht. Tut mir leid.“
„Ist doch nicht schlimm.“
„Weißt du, manchmal hasse ich mein Leben, so, wie es ist.
Das gehört wohl auch oft zum Erwachsensein dazu.“
„Was heißt das?“
Mit großen Augen schaut das Mädchen den
Mann an.
„Was genau meinst du?“, fragt der Mann nach.
„Du hast gesagt ‘manchmal hasse ich mein Leben‘.
Was heißt
das? Ich kenne das nicht.“
„Das ist schwierig zu erklären.
Und vielleicht auch nicht
das Richtige für dich.“
„Ich möchte es aber wissen!“ Die Augen des Mädchens blitzen.
„Immer sagen die Erwachsenen, das wäre noch nichts für mich,
ich würde es noch nicht verstehen.“
„Gut, ich will´s versuchen.
Hast du schon einmal richtig
Angst gehabt?“
„Ja, schon sehr oft.“
„Siehst du, wenn du richtig Angst hast und glaubst,
jemand
anders trägt daran die Schuld oder könnte etwas dagegen tun,
dann bekommst du
so ein Gefühl wie Hass.“
„Also, wenn ich Angst habe und mir keiner hilft, dann hasse
ich?“
„Hm, nein, so einfach auch wieder nicht. Es muss mehr sein.“
„Was meinst Du mit ‘es muss mehr sein‘?“
„Warte, ich versuch es anders.
Stell dir vor, du wünscht dir
etwas von ganzem Herzen,
und du bekommst es nicht.
Es gibt jemanden, der könnte
es dir erfüllen, aber er tut es nicht.
Dann bekommst du so ein Gefühl wie
Hass.“
„Also hasse ich, wenn ich mir etwas von jemandem wünsche
und
es nicht bekomme?“
„Nein, das wäre auch zu einfach. Es muss mehr sein!“
„Was meinst du dann mit ‘es muss mehr sein‘!“
„Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.
Hass ist ein
ganz böses Gefühl, ein ganz böser Gedanke.
Er macht dich blind, er macht dich
böse, er macht dir ein trauriges Gesicht.
Du fühlst dich dann manchmal richtig
matt, ganz so, als wärest du krank.
Es ist schwierig, das zu beschreiben.
Aber
Hass hat auch immer etwas mit Sehnsucht zu tun.“
„Sehnsucht!“, strahlt das Mädchen,
weil es ein Wort aus der
„Erwachsenen-Welt“ kennt.
„Das kenne ich. Ich weiß, was das ist.“
„Du weißt, was Sehnsucht ist?“, fragt der Mann verwundert.
„Ja, ich weiß das.“
„Erklär es mir“, sagt der Mann neugierig.
„Sehnsucht ist, wenn du dir jemanden wünscht, der dich lieb
hat,
jemanden, der dich in den Arm nimmt, einfach nur so,
jemanden, der dich
ins Bett bringt und deine Hand hält,
bist du eingeschlafen bist,
jemanden, der
dir morgens das Butterbrot schmiert
und dir heißen Kakao in eine große Tasse
gießt.
Wenn du dir so jemanden wünscht,
aber keiner da ist, dann ist das
Sehnsucht.“
„Aber Kleine, machen denn das deine Eltern nicht für dich?“
Das Mädchen sieht traurig zu Boden.
„Ich habe keine Eltern
mehr, sie sind tot.“
„Aber wo wohnst du denn jetzt?“
„Ich wohne mit meinem Onkel zusammen.“
„Kleine, das tut mir sehr leid, das mit deinen Eltern,
wirklich.“
„Es braucht dir nicht leid zu tun. Du kannst doch nichts
dafür.“
Immer noch hält das Mädchen den Kopf gesenkt,
aber der Mann kann die Träne,
die die Wange des Mädchens herunterkullert, sehen.
Unfähig, sie in den Arm zu
nehmen oder anderweitig zu trösten,
reicht er ihr ein Taschentuch.
„Danke!“, sagt das Mädchen.
Sie trocknet sich die Augen und
schaut ihn an.
„Weißt du was?“
„Nein, sag´s mir.“
„Ich möchte nicht erwachsen werden.
Wenn ich erwachsen bin,
dann kann ich nicht mehr spielen,
ich werde traurig sein, ich werde hassen.“
„Nein, nein, so ist das nicht, Kleine.
Erwachsensein ist
auch schön. Du wirst auch viel Freude haben.“
„Du siehst nicht fröhlich aus.
Du lachst nicht.
Warum lachen Erwachsene so
wenig?
Ich möchte nicht erwachsen werden.“
Der Mann möchte noch etwas erwidern, aber das Mädchen kommt
ihm zuvor. „Ich muss jetzt heim, es ist schon spät und nachher ist ja noch Bescherung.“
Sie lächelt wieder.
„Natürlich. Ich fahr dich heim, okay?“
„Ach, das brauchst du nicht.
Ich wohne nicht weit von hier,
gleich neben dem Bahnhof.“
„Nein, ich bringe dich heim.
Es ist kalt, und außerdem fängt
es an zu schneien.“
Sie fahren mit seinem Wagen durch die Stadt, Richtung
Bahnhof.
Das Mädchen weist ihm den Weg,
bis sie dann schließlich vor ihrem
Zuhause anhalten.
Es ist das Obdachlosenheim.
„Hier wohnst du?“, fragt der Mann erschrocken.
„Ja“, lächelt das Mädchen, „hier wohne ich.“
Dann fängt sie an zu lachen.
„Warum schauen mich alle immer
so merkwürdig an,
wenn sie erfahren, wo ich wohne?
Ich muss doch irgendwo
schlafen.
Und ich muss jetzt auch los, sonst bekomme ich Ärger.
Darf ich dich
noch etwas fragen?“
„Natürlich, Kleine.“
„Du hast gesagt, du hast nie Zeit zum Spielen.
Auch nicht
mit deinem Jungen?“
„Doch, natürlich.“ Aber er lügt, und er weiß das.
„Dann ist ja gut. Mach´s gut, es war schön, mit dir zu
sprechen.“
Das Mädchen öffnet die Tür, steigt aus und winkt noch
einmal.
Der Mann winkt zurück.
Als das Mädchen schon die wenigen Stufen zum Eingang des
Heims
hochgelaufen ist, hält es noch einmal inne, dreht sich um und kommt
zurück.
Sie öffnet die Fahrertür,
umarmt den Mann und gibt ihm einen Kuss auf
die Wange.
„Fröhliche Weihnachten dir und deiner Familie.“
Dabei
strahlt sie über das ganze Gesicht, bis sie seine Tränen sieht.
„Warum weinst
du?“
„Ach, es ist nichts“, lügt er.
„Ich weine immer zu
Weihnachten.
Mach´s gut, Kleine. Und auch dir ein Frohes Fest.“
Als der Mann dann heimkommt, lässt er die Einkaufstaschen
mit den Geschenken im Wagen.
Seine Frau sieht in verwundert an.
„Wo warst du denn so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Ach, ich habe unterwegs noch einen Bekannten getroffen.
Wir
haben uns verquatscht.
Tut mir leid.“
„Und die Geschenke?
Hast du die Geschenke für den Kleinen?“
„Warte es ab!“
Als dann die Bescherung eingeläutet wird,
da liegen unter
dem Tannenbaum nur ihre Geschenke.
Nichts von ihm. Sie sieht irritiert aus.
Er
aber sagt nichts.
Sie geben sich einen Kuss, wünschen sich „Frohe Weihnacht“.
Dann geht er nach oben ins Kinderzimmer
und kommt mit einem Kinderbuch zurück.
Er nimmt den Kleinen in den Arm, lässt ihn das Buch durchblättern,
erklärt ihm
die bunten Bilder darin und liest ihm Geschichten daraus vor.
Diesmal gibt es
keine Fotos, auf denen das ultra-neue Hardcore-Spielzeug
für Kinder im Alter
zwischen 3 und 6 Jahren abgelichtet wird.
Keine Fotos, auf denen der Junge –
möglichst mit einem begeisterten Gesichtsausdruck –
das sündhaft teure nächste Paket auspackt.
Diesmal gibt es das alles nicht.
Nur
Geschichten.
Irgendwann schläft der Junge dann ein.
Als sie den Kleinen zu Bett gebracht haben,
überreicht die
Frau ihrem Mann ihre Geschenke.
Er packt sie wortlos aus:
ein Buch, eine
Armbanduhr und eine CD,
die er sich schon lange kaufen wollte.
„Danke, vielen Dank“, sagt der Mann.
„Also, gefallen dir die Geschenke? Das freut mich.“
„Ja, deine Geschenke gefallen mir. Aber das meinte ich
nicht.“
„Was denn dann?“, fragt die Frau sichtlich irritiert.
Der Mann geht auf seine Frau zu und nimmt ihre Hände in die
seinen.
Er hält sie an den Händen, und diesmal nicht einfach so,
nicht wie
schon so oft, er hält sie an den Händen
mit einem bewussten Gefühl des Haltens.
Mit einem Gefühl voller Liebe.
So wie damals.
Gott, wie lange ist das schon her?
Wie konnte ihre Liebe nur so
selbstverständlich werden?
Der Mann blickt zu Boden.
„Ich möchte dir danken.
Ich möchte dir dafür danken, dass du
meine Frau bist.
Ich möchte dir für all das, was du die Jahre über für mich
getan hast, danken.
Ich möchte dir dafür danken, dass du mich liebst.
Ich
möchte dir dafür danken, dass du für mich da warst,
wenn ich dich brauchte.
Und
ich möchte dir aus dem tiefsten Inneren meines Herzens dafür danken,
dass es
dich gibt.“
Er führt seine Frau zu dem runden Holztisch,
und während sie
sich setzt, zündet er eine Kerze an
und stellt sie in die Mitte des Tisches.
Er
setzt sich ihr gegenüber, dann fassen sich beide an den Händen,
so dass sie das
leise flackernde Licht der Kerze umarmen.
Er sieht in ihre Augen, in denen sich
das Kerzenlicht widerspiegelt.
Was hat sie nur für wunderschöne, sanfte,
tiefbraune Augen!
Er hatte es beinahe vergessen.
Dann fragt er sie:
„Wie geht es dir?“
Und beide weinen.
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